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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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ging in die Hocke, setzte
    sich in den Schneidersitz und sah den Mitarbeitern des
    Bergungsteams dabei zu, wie sie den silbernen Sport-
    wagen Stück für Stück, Meter für Meter an Land zogen.

    15

    Am Abend kam Tapani. Um ihm zum Geburtstag zu
    gratulieren. Er hielt ihm einen Kuchen vor die Nase.
    Schokoladenkuchen mit Kiwis und Himbeeren.
    »Danke«, sagte Ketola und betrachtete eine Weile die
    Himbeeren, die Ziffern zu formen schienen. Er wurde
    nicht schlau daraus.
    »AK«, erklärte Tapani nach einer Weile. »Antsi Ke-
    tola. Der Name des Geburtstagskindes.«
    »Ah so«, sagte Ketola.
    »Macht doch Sinn, oder?« sagte Tapani.
    »Absolut«, sagte Ketola, und dann bemerkte er, dass
    sie immer noch auf der Türschwelle standen, und bat
    Tapani herein.
    Sie saßen im Wohnzimmer und aßen jeder ein Stück
    von Tapanis Kuchen.
    »Selbstgemacht übrigens«, sagte Tapani.
    »Schmeckt sehr gut«, sagte Ketola.
    Der Fernseher lief. Ketola hatte sofort eingeschaltet
    und seit seiner Rückkehr jede Nachrichtensendung ge-
    sehen. Die Meldung lief rauf und runter. Der mutmaß-
    liche Täter hatte mutmaßlich Selbstmord begangen.
    Sein Name war Timo K., wohnhaft in Helsinki. Timo K.
    war zu Tode gekommen, und Antsi K. hatte Geburtstag.
    Ketola war zu müde, um darüber zu lachen, obwohl er
    den Eindruck hatte, es sei lustig.
    Alles schien sehr weit weg zu sein. Die Fahrt nach
    Helsinki. Das Auto in dem See, der tote Körper auf
    dem Fahrersitz. Kimmo. Kimmo, der schweigend neben
    ihm saß. Nurmela in Jackett und Krawatte, bei mehr als
    dreißig Grad im Schatten. Und Nurmela hatte nicht
    mal geschwitzt.
    Das alles konnte ewig her sein. Die Abläufe gerie-
    ten durcheinander. Jetzt saß Tapani hier, das war also
    Gegenwart. Tapani, der mit kleinen Bissen Kuchen aß,
    und im Hintergrund wurden nebeneinander die Bilder
    von Pia Lehtinen und Sinikka Vehkasalo eingeblendet,
    und Ketola dachte an einen diesigen, ausgesprochen
    kühlen Tag im Frühling, der wenige Monate zurück lag
    und sehr weit entfernt zu sein schien. An den Regen, an
    das Geräusch von prasselnden Regentropfen auf der
    Markise, an eine ganz bestimmte Leere in seinem Hirn.
    Was für eine erstaunliche Bedeutung dieser weit ent-
    fernt liegende Tag gewonnen hatte.
    Er spürte eine Sehnsucht. Eine besonders quälende
    Sehnsucht, denn er konnte sie nicht benennen, er
    konnte ihr keinen Inhalt zuordnen, er spürte nur, dass
    sie ungeheure Ausmaße hatte und minütlich tiefer in
    ihn einzudringen schien.
    »Ich habe übrigens auch ein Geschenk für dich«, sagte
    Tapani.
    Ketola sah seinen Sohn an.
    »Draußen. Gut versteckt natürlich.«
    »Ja. Das freut mich natürlich«, sagte Ketola.
    »Komm«, sagte Tapani.
    Ketola folgte Tapani, der die Tür öffnete und zielstre-
    big in den Garten abbog.
    »Schau«, sagte er und zog sein Geschenk hinter einem
    Gebüsch hervor.
    »Ein Fahrrad«, sagte Ketola.
    »Genau«, sagte Tapani.
    Ketola lag die Frage auf der Zunge, wie er dieses
    Fahrrad hatte bezahlen können, aber er schluckte sie
    hinunter.
    »Und weil du ja schon ein Fahrrad hast, könntest du
    mir dein neues ab und zu leihen«, sagte Tapani.
    »Klar«, sagte Ketola.
    Im Nachbargarten sprang die Tochter kopfüber ins
    Schwimmbad. Die Eltern saßen auf der Terrasse. Ketola
    hatte den Eindruck, dass sie zu ihm hinüberblickten
    und ihm am liebsten jede Menge Fragen gestellt hätten.
    Über die Sache, die da in den Nachrichten lief. Ob er
    denn da Genaueres wüsste, das interessiere sie natürlich
    sehr, und er habe doch lange bei der Polizei gearbeitet.
    »Klar. Jederzeit leihe ich dir das Fahrrad«, sagte Ke-
    tola. »Und ich danke dir sehr. Ich ... ich kann das ja
    immer schwer zeigen, aber es freut mich, dass du hier
    bist. Es freut mich wirklich sehr.«
    Tapani sah ihn an und nickte, aber er schien nicht zu
    begreifen, was Ketola damit sagen wollte.
    »Verstehst du?« fragte Ketola.
    Tapani nickte noch einmal.
    Sie standen eine Weile schweigend, dann sagte Ta-
    pani: »Leihst du es mir?«
    »Hm?«
    »Das Fahrrad? Leihst du es mir?«
    »Ja, klar. Habe ich doch schon gesagt.«
    »Ich meine, jetzt. Ich muss los. In den ... Wald. Ich
    muss die Leute davon abhalten... Dummheiten zu tun.«
    Ketola spürte einen Stich im Magen und dachte, wie
    unsinnig es war. Was für eine unsinnige Gefühlsregung.
    »Na, klar«, sagte er.
    »Danke«, sagte Tapani. Er schwang sich auf das Fahr-
    rad, trat einige Male kräftig in die Pedale, um Schwung
    aufzunehmen, und schwebte in

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