Das Schwein sieht Gespenster: Roman (German Edition)
ab, drehte ihn schließlich um und schüttelte ihn ungeduldig. Eine kleine Goldmünze fiel heraus mit der Prägung des Profils des Monarchen, der vor mehr als zwei Jahrhunderten regiert hatte, George, der Dritte seines Namens. Er nahm sie auf, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie hin und her. Etwas hatte ihn gedrängt, sie mit in das Grab zu legen, aber nach längerer Betrachtung ließ er sie achselzuckend in den Stiefel zurückgleiten und streifte ihn sich wieder über den Fuß. Sich von der Münze zu trennen und sie dem Knaben mitzugeben, wäre der höchsten Ehre gleichgekommen, die Declan ihm hätte erweisen können. Von Generation zu Generation war sie weitergereicht worden als Andenken an eine große Tat, die Vorfahren vollbracht hatten, und sie sollte die Erinnerung an sie wach halten. Es war Declans heilige Pflicht, sie für die nächste Generation aufzubewahren, und allein der Gedanke, sie dem zu Tode gekommenen Lehrling mit ins Grab zu geben, war abwegig gewesen. Der Junge war nicht sein Sohn. Er war sein Lehrling. Doch wenigstens seine Baseballkappe sollte er haben; er zog sie sich vom Kopf und stülpte sie dem Toten über. Und obgleich der Junge noch nicht ausgelernt hatte, folgte Declan einer plötzlichen Eingebung und senkte den Lederbeutel mit den Dachdeckerwerkzeugen in das Grab.
Als er den Toten in das Erdloch hinabließ, wurde er sich der Kälte in der Tiefe bewusst. Sacht beförderte er den Leichnam wieder in die Höhe, lehnte ihn vorsichtig gegen den Erdhügel, zog sich die Jacke aus – die mit den Messingknöpfen – und hüllte den Jungen mit aller Sorgfalt und nicht ohne Schwierigkeiten darin ein.
Als er die Jacke zuknöpfte, musste er plötzlich feststellen, dass er sich nicht in der Lage sah, das zu Ende zu bringen, was zu tuner im Begriff war. Er konnte den Leichnam nicht ins Grab senken. Er konnte es nicht ertragen, ihn einfach dort zu lassen, allein und in der Kälte. Er wollte es nicht wahrhaben, dass der Junge für immer gegangen war, dass er, Declan, ihn verloren hatte. Für immer. Dass er ihn nie wieder auf den Dächern mit den Binsen hantieren sehen würde, nie wieder die fröhliche Stimme hören würde, die Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählte. Nicht nur das, eine andere Wahrheit war noch unerträglicher. Der Junge würde in dem Grab ganz allein sein. Wiederum war er von jeher allein gewesen und hatte das Alleinsein guten Mutes und gelassen hingenommen. Das war immer und überall so gewesen, bei der Arbeit, bei seinem munteren Schwatzen und beim Geschichtenerzählen. Declan hatte es miterlebt, aber wirklich bewusst machte er es sich erst jetzt. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr erkannte er sich selbst. Es zerriss ihm das Herz, unselige Trauer durchdrang ihn und nistete sich tief in ihm ein.
Langsam senkte Declan den Toten ein zweites Mal in das Grab. Schweigend füllte er die Erde auf und achtete sorgsam darauf, dass alles genauso wie zuvor aussah, als wäre Kieran Sweeney eben erst mit dem Pflug über den Boden hinweggegangen. Er kehrte zurück zum Lastwagen und stolperte zweimal. Dann machte er sich auf den Weg gen Norden.
Am zweiten Tag seiner Reise wurde ihm bewusst, dass er vergessen hatte, ein Gebet zu sprechen. An einer Quelle machte er Halt, und ehe er einen Schluck nahm, stand er eine Weile stumm da und bat Gott, Er möge sich aus dem Durcheinander in seinem Kopf und im Herzen die Worte heraussuchen, die Er für den traurigen Anlass für richtig hielt. Declan trank nur einen halben Becher. Den Rest goss er auf die Erde zu seinen Füßen. Dann zog er weiter auf der Suche nach Kinvara.
Declan stand hoch oben am Steilufer. Vom Wasser her war Nebel aufgestiegen; das Meer wusste seine Geheimnisse zu hüten. Manchmal geschah das ruhig und sanft wie jetzt, oft genug abergebärdete sich das Meer wütend und ungestüm. Das Boot war verschwunden, und ob das Frachtschiff sicher Skellig Michael erreicht hatte, blieb Declan auch verborgen. Die Möwen waren zu hören, aber nicht zu sehen, ihr Geschrei aus den Wolken klang spöttisch, als wollten sie jeden warnen, der so kühn war, es mit der gegenwärtigen Vorherrschaft des Nebels aufzunehmen. Nichts war mehr da – kein Meer, kein Himmel, und selbst das Festland begann sich aufzulösen.
Aus der Ferne vernahm man das Geräusch eines Autos, es kam näher, war wohl doch eher ein Lastwagen. Declan wollte abwarten, bis es vorbei war, um dann die Steinstufen zum Strand hinunterzuklettern.
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