Das Schwein sieht Gespenster: Roman (German Edition)
Hineinbeißen reizte. Oh, Zeiten waren das damals … Zeiten …«
Sie hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Gedämpfter fuhr sie fort: »Und wir glaubten schon, wir hätten ihn zum letzten Mal gesehen, die See hätte ihn verschlungen, nie würde er wiederkommen. Aber die See konnte ihn nicht behalten. Er ist aus den Wogen zu uns aufgestiegen, Kitty. Wie sollten die Wasser, die so weit sind wie die Welt, ihn für immer und ewig festhalten? Das ging einfach nicht. So einem wie ihm konnte das nicht passieren. Er ist wiedergekommen …«
»Aus dem Norden, wo er hingegangen war.«
»Ich weiß. Ich weiß. Aber darf einen nicht ab und an die Verrücktheit von früher überkommen …?«
»Mich überkommt sie nicht. Dich vielleicht. Aber mich nicht.«
»Ah, natürlich. Dich nicht.« Wieder das kurze Auflachen, diesmal ganz zwanglos und doch mit einem besorgten Beiklang. »Auch mich darf so was nicht überkommen. Das geht nicht mehr. Darf nie mehr sein, die Verrücktheit von damals. Wir müssen uns einfach davor hüten.«
Die Flut war jetzt vollends hereingebrochen, die Wogen donnerten gegen die Felswand, als seien sie wutentbrannt darüber, dass die Klippen das vorangegangene Lecken und Schlecken der Wellen mit Nichtachtung gestraft hatten. Kitty schob Mrs Whartons Buch von der linken in die rechte Hand. Jetzt nahte der Moment der Entscheidung. Sie musste es werfen, nicht einfach fallen lassen wie etwas, das sie loswerden wollte. Sie musste es von sich wegschleudern, soweit sie nur konnte, in ehrendem Angedenken an die schwesterliche Autorin, deren Mängel ihr nichts als Respekt abnötigten.
Wieder wurde sie von Lolly gestört. »Ach so, du hast gelesen. Hab gar nicht richtig hingeschaut. Dir ist vielleicht nie aufgefallen, ich kann mitunter ziemlich gedankenlos sein.«
»Nein, habe ich nie bemerkt.« Beide mussten kichern. Lolly zog den rechten Fuß vom Klippenrand zurück, überlegte es sich anders und senkte den Fuß erneut. Nach einer Pause, die ausreichte, Kitty spüren zu lassen, dass sie noch mehr sagen wollte, strich sie das hellblaue Kleid auf ihrem Schoß glatt und begann wie in einem Selbstgespräch zu reden, wenngleich es sehr wohl auch für Kittys Ohren gedacht war.
»Um die Knochen eines Jungen geht’s, die jetzt draußen unter den Wogen liegen. Declan hat mir alles erzählt, und wie es dazu gekommen ist. Du weißt das auch, hat er gesagt, dir müsste man das gar nicht erzählen, meinte er. Mir hat er es geschildert und mir dabei die Geheimtreppe gezeigt, die von unten hochgeht. Hast du gewusst, dass er sie gefunden hat? Die Treppenstufensind immer noch da, über die die Priester geflohen sind und wo wir das Skelett versteckt haben, als Tom und Jim von der Gardaí kamen, um nach dem Gefangenen zu suchen, der ihnen entwischt war.«
»Ich weiß Bescheid«, bestätigte Kitty, »bin die Stufen aber nie rauf oder runter gegangen. Die gehörten zum Haus. Hätten mit dem Haus auch verschwinden müssen.«
»Sind sie aber nicht. Dunkel war’s da drin, selbst mit der Taschenlampe von Declan. Aber Angst hatte ich nicht, schon gar nicht, wo doch Declan bei mir war. Wir waren dabei hochzuklettern … Ach, lass mich das erst noch sagen. Ich hatte nach ihm gesucht, nachdem ich mich entblödet hatte, ihm von meinem Buch zu erzählen. Wollte ihn überzeugen, dass ich nicht so eine verdrehte Nudel bin, wie er mich in Caherciveen erlebt hat, wo ich mit Aaron war, um den
Messias
zu hören. Und da hat er mir dann angeboten, mir die Geheimtreppe zu zeigen. Wir waren halb oben, da blieb er auf einem Absatz stehen; um uns das feuchte Gestein und der Geruch von allem, was da verwest war all die Jahre über. Den Lichtkegel von der Taschenlampe hat er auf die Stufen vor uns gerichtet, und da hat er es mir erzählt. Wie der Junge vom Dach gestürzt und gestorben ist, all das. Und wie er ihn in seinem eigenen Sonntagsstaat begraben hat, weil doch die Erde so kalt war. Und die Dachdeckerwerkzeuge hat er ihm beigegeben und noch manch anderes. Alles hat er in den alten Beutel gesteckt, damit der Junge nicht ohne die Sachen sei, mit denen er umgegangen war in der Welt, einer Welt, die auch zu Declan gehörte. Von der Wanderung nach Norden hat er geredet und davon, wie er gesucht hat, ob wer den Jungen kannte. Und dann kommt er zurück, und alles ist weg, vom Winde verweht und von der See verschlungen. Und wie sein Gram ihn gebeugt hat, alles hat er mir erzählt, und wie er gar nichts mehr hat tun können.« Sie
Weitere Kostenlose Bücher