Das Schwein unter den Fischen
Kraft. Heute ist Tante Trixis vierundvierzigster Geburtstag, und wie jedes Jahr steigt mir an diesem Tag zum ersten Mal der Sommer in die Nase.
Reiner hält vor der Waschanlage und sagt: »Bisschen frisch isses schon noch.« Er kurbelt das Fenster hoch, steckt sich eine Marlboro Menthol an und liest mir aus dem P. M.-Magazin vor:
»Die weltweite Biomasse der Ameisen ist größer als die der Menschen!«
»Mir egal«, sage ich.
Er zieht die Augenbrauen hoch, seine hervortretende Ader auf der Stirn ist heute fast violett. In meinen Ohren rauscht es. Wenn ich höre, wie mein Herz schlägt, habe ich Angst, dass es damit aufhört. Dr. Ray sagt, das sei neurotisch.
Mein Vater wischt sich übers Auge.
»Mensch, Tier, guck doch mal, wo du hinfliegst!«
Er reißt die Augen auf und sagt, ich solle mal nachsehen. Reiner starrt den Fliegenkadaver auf meiner Fingerkuppe an, bekreuzigt sich und sagt:
»Kann nicht schaden, ich hab mal gelesen, jedes unnötig getötete Tier macht mehr Minus auf dem Karmakonto.«
Ich wische meinen Finger an seinem Sitz ab.
»Du bist doch nicht schuld, wenn dir was ins Auge fliegt.«
»Fußballspieler bekreuzigen sich auch.«
»Ja, aber die sind katholisch.«
»Ja, Stine, auf dem Papier vielleicht.«
»Papa, das ist jetzt komplett albern.«
»Ach, dich interessiert doch nie, was mich interessiert!«
»Meinst du jetzt wegen der Biomasse der Ameisen? Gut, bitte sag mir, was daran interessant ist. Was sind deine Erkenntnisse dazu?«
»Dass wir Menschen uns alle zu wichtig nehmen, obwohl wir ursprünglich aus dem Schlamm gekrochen sind!«
»Also, ich bin nicht ›wir Menschen‹.«
»Das sagt doch alles, du bist ein gutes Beispiel, junge Dame, du nimmst dich zu wichtig, du solltest dich mal in Realität zu was setzen.«
»Du meinst in Relation!«
»Immer weißt du alles besser! Nee, ich mein schon ›in Realität‹. Ich weiß schon, wie ich das mein. Denk mal drüber nach, Tochter, dann kommst du auch drauf. Schlau genug biste ja!«
Mein Vater schleudert das blöde P. M.-Heft auf die Ablage.
»So, jetzt beruhigen wir uns mal wieder. Wir haben schließlich noch was vor!« Er klopft aufs Lenkrad.
»Bist du so weit, Stine?«
Ich nicke, er drückt die Zigarette im Aschenbecher aus und reißt mir die Sonnenbrille vom Kopf.
»Aua, pass mal auf, meine Haare!«
»Aufsetzen, nicht jammern!«
Wir setzen beide unsere verspiegelten Sonnenbrillen auf, und Reiner fährt in die Waschstraße. Die Idee mit der Waschstraße hatte Reiner an meinem siebzehnten Geburtstag. Das Geld, das ich dabei fürs Durchhalten verdiene, spart er für meinen Führerschein. Eigentlich bin ich nicht besonders interessiert daran, selber Auto zu fahren. Vielleicht kann ich meinen Vater irgendwann davon überzeugen, es mir für ein Studium oder ein Jahr in London auszuzahlen.
Für jede Minute, die ich in dieser beengten Situation durchhalte, gibt es inzwischen einen Fuffi, hyperventiliere ich, gibt es nur die Hälfte. Bei Ohnmacht gehe ich leer aus.
Ich schließe die Augen und stelle mir Dr. Ray vor, wie er in seinem beigefarbenen Ledersessel sitzt und von Zeit zu Zeit auf seinen Block schaut. Ich erzähle ihm alles, was mir von früher einfällt. Ich frage mich immer, ob er mich hübsch findet, obwohl er schwul ist. Seine Haut ist braun, sein Rollkragenpullover ultramarinblau. Er stellt mir kaum Fragen, lächelt, nickt und trägt immer diese Rollkragenpullover. Tante Trixi sagt, das mache er aus Eitelkeit, denn sein Hals sei zu kurz. In jeden seiner Pullover ist ein anderes Gemälde hineingearbeitet. Er hat sogar einen, auf den mit Strasssteinchen die
Sternennacht über der Rhône
von van Gogh geklebt ist.
Der blaue Pullover aber gefällt mir am besten, 100 Prozent Kaschmirwolle, seine Muskeln zeichnen sich darunter ab. Das Blau heißt nach seinemSchöpfer Yves Klein:
International Klein Blue
. Das perfekte Blau. Es soll den Verstand des Betrachters unterwerfen. Dr. Ray hat mir viel darüber erzählt.
Laut Klein ist Sensibilität die Währung des Universums. Den Satz hab ich letztes Jahr mit blauer Farbe an die Wand direkt neben unserem Imbisseingang gesprüht. Ramona übermalte ihn noch am selben Tag während meiner Schicht mit weißer Farbe, aber er schimmert immer noch durch.
Klein malte meist einfarbige Bilder, immer im gleichen Blau. Einmal stellte er eine leere Galerie aus. Die Besucher bekamen einen Cocktail, der ihren Urin blau färbte. Klein starb mit vierunddreißig an seinem dritten Herzinfarkt,
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