Das Schwein unter den Fischen
Satz ist? Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt? Schließlich bin ich über neunzig, warum sollte ich mich denn nicht auch so fühlen? Wer behauptet eigentlich, nur der Körper würde altern und innen drin sei man so gut wie jugendlich, redet Blech! Mit solchen Leuten stimmt was nicht, das sag ich dir. Sterben ist sicher nicht die beste Aussicht, aber muss man deshalb gleich meschugge werden?«
»Tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint, ich habe ja nur wiederholt, was andere alte, also … ältere Leute so sagen.«
»Siehst du, das sollte man nie tun, einfach wiederholen, was andere sagen. Warte, bis du eine Erfahrung selber gemacht hast, bevor du dir ein Urteil erlaubst, und sprich erst darüber, wenn du genug Abstand hast. Und verteile erst Ratschläge, wenn du zwei Jahre nicht mehr deswegen geweint hast!«
Lilli wirkt plötzlich abwesend und schaut wieder durch mich hindurch. Dann legt sie mir die Hand auf die Schulter und sagt:
»Ich sage dir was: Ich erinnere mich sehr gut und schon sehr lange an meine Zeit als junge Frau. Und wenn sogar die Erinnerungen altern, dann weiß man: Nun ist man alt. Und ich fühle mich so, ich fühle mich wie eine, die bald hundert Jahre alt wird. Meine Erinnerungen langweilen mich. Selbst die Nostalgie verblasst.«
Sie nimmt meinen Becher und trinkt den Kaffee aus. Ich frage:
»Haben Sie Angst vor dem Tod?«
»Wenn ich mich jung fühlen würde, hätte ich sicher Angst, aber zum Glück fühl ich mich alt. Sonst wäre das mit dem Sterben ja unerträglich.«
Sie holt eine Schale aus dem Schrank und drückt mir ein großes Stück Kandis in die Hand. Dann steckt sie sich eines in den Mund und nickt mir zu.
»Lutsch das, Kindchen, Zucker hält fit! Sicher, ich habe auch meine Schmerzen hier und dort, aber da bin ich nicht schlimmer dran als die ganzen jungen Leute. Guck sie dir an, Migräne, Gastritis, Anorexie, Fettleibigkeit, Rückenleiden, Erschöpfung und so weiter. Man könnte meinen, die Jugend von heute will die Alten übertrumpfen. Denen ist ihr Leben jetzt schon zu viel.«
Sie tastet meinen Arm ab, drängt mich aufzustehen und geht einmal um mich herum.
»Du bist zu dünn, du siehst aus wie ein Mädchen in Kriegszeiten. Ich mach dir morgen mal was Ordentliches zu essen!«
»Ich esse genug, mein Vater hat auch erst ab dreißig angesetzt!«
Lilli schüttelt den Kopf.
»Auch eine junge Frau muss einen weichen Körper haben. Zu dünn sein schadet den Lebensgeistern!«
»Mir geht es gut!«, rufe ich.
»Hast du einen Freund?«
»Nö.«
»Siehst du! Hast du Enki schon kennengelernt?«, fragt sie und strahlt.
»Nein, wer ist das?«
»Der junge Mann, der zurzeit bei Heinrich wohnt!«
»Ach so, sind die beiden ein Paar?«
Lilli lacht, schlägt sich auf die Schenkel und hört gar nicht wieder auf, bis ihr die Augen tränen. Hinter uns auf dem Herd zischt es plötzlich. Die im Topf verbliebene Milch kocht über und läuft auf den Boden. Ich nehme eine Rolle Haushaltspapier aus den Einkaufstüten und wische die Milch sorgfältig auf, putze auch zwischen den Holzdielen alles gründlich weg. Inden Ritzen sind auch alte Spuren von getrockneter Milch. Lilli steht auf und zündet sich eine Zigarette an. Mit der Kippe im Mundwinkel greift sie nach meinen Haaren und bindet sie mit einem Gummiband fest zu einem Dutt. Es ziept, Lilli lächelt zufrieden und sagt:
»Die Milch ist wirklich flink beim Überkochen. Vorhin war ich stolz, dass es mir heute noch nicht passiert ist, weil es mir nämlich jeden Tag passiert, sogar wenn ich direkt daneben stehe. Immer kocht das verfluchte Zeug über. Dann ziehe ich den Topf immer so schnell vom Herd, dass er herunterfällt. Rums. Bums. Knall!«
Lilli hat sich ein Stück Küchenpapier unter den Schuh geklemmt und wischt damit ein bisschen hin und her. Ich sage:
»Schon in Ordnung, putzen ist ja jetzt mein Job.«
»Ich will nicht, dass du nur putzt, mir die Wäsche machst und einkaufst. Du erinnerst mich an meine Töchter. Alle jungen Mädchen erinnern mich an sie. Auch die jungen Männer. Sogar alle Bäume erinnern mich an sie, ach, und eigentlich die ganze Stadt, Sonne, Mond und Sterne. Und alles im Fernsehen auch. Das Einzige, was mich nicht an sie erinnert, ist Heinrich!«
»Sie haben also doch Kinder.«
»Lass uns lieber über etwas anderes reden, bitte.«
»Klar, kein Problem, äh, ist Heinrich wirklich Holländer?«, frage ich.
»Hat er das erzählt? Er kennt viele gute Geschichten! Als wir uns kennenlernten, behauptete
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