Das Schwein unter den Fischen
er, Schriftsteller zu sein. Aber er musste bald zugeben, dass er keiner ist. Eigentlich war er ein großer Jazzmusiker!«
»Ich dachte, Dirigent?«
»Dirigent? Nein! Oder doch? Vielleicht. Hat er schon wieder geflunkert? Er ist um die Welt gereist mit seiner Musik, da hört man viele Geschichten. Er hatte nie einen großen Namen, aber er hat die Großen unterstützt auf ihren Tourneen, hat Stücke für sie geschrieben, Gershwin war sein Freund. Heinrich hat irgendwann dieses Haus gekauft, den Dachboden ausgebaut, ihn dann mit der darunterliegenden Wohnung verknüpft und ist eingezogen. Am Anfang habe ich mich gegen seinen Charme gewehrt. Nicht, weil es meine Art war, mich zu zieren, nein, damit habe ich nach dem Krieg aufgehört. Keuschheit hat mich unter den widrigen Umständennicht mehr interessiert. Aber ich wollte eben nicht mehr lieben. Und als er zum ersten Mal mit seinen hässlichen Füßen vor meiner Tür stand, wusste ich, den würde ich lieben. Also habe ich mich geziert. Und er war ja auch zehn Jahre jünger als ich. Na, das ist er natürlich noch immer. Ach, es ist ja schon zwanzig Jahre her.«
Sie schaut mich an, ich sage:
»Macht ja nichts, ist doch logisch! Frauen leben schließlich auch ein paar Jahre länger. Also ist es nur logisch, meine ich, wenn der Mann jünger ist, dann stirbt man vielleicht noch am ehesten gleichzeitig.«
Ich schließe die Augen und denke mehrmals das Wort peinlich. Seit der Grundschule mache ich das so. Vielleicht sollte ich mir etwas Neues überlegen, um unangenehme Situationen zu überwinden. Lilli sieht traurig aus und zugleich so abwesend wie vorhin. Vielleicht hat sie gar nicht gehört, was ich gerade gesagt habe.
Ich weiß nicht, wie man für jemanden da ist. Bei uns zu Hause ist die höchste Form des Füreinanders, sich in Ruhe zu lassen. Ich esse, was Lilli mir angeboten hat. Ich stecke mir drei Stückchen Kandis in den Mund und zerbeiße sie laut und deutlich. Lilli nickt. Meine Zähne schmerzen, mir wird ein bisschen schlecht, Lilli steht auf und bringt mir ein Glas Wasser. Sie seufzt, nimmt einen Schluck Brandy und streicht mir über die Haare. Ramona strich mir früher auch oft über den Kopf, allerdings so grob, dass meine Haare sich statisch aufluden und wild abstanden. Plötzlich zieht Lilli die Hand weg:
»Die Sirenen heulten, und ich bin mit meinen Töchtern raus auf die Straße. Wir wollten nicht mehr in den Keller, weil dort eine Gruppe von Männern war, die die Enge ausnutzten. Wir wollten zum nächsten Bunker. Er war nicht weit weg, wir hätten es schaffen können. Die Sirenen waren eben erst angegangen. Ich dachte, wir schaffen es. Meine Töchter waren noch nicht einmal so alt wie du, als sie vor mir in die Luft geflogen sind. Sie steckten mitten in der Pubertät und wurden zerfetzt, und ich musste dabei zusehen. Ich bin stehen geblieben und hab darauf gewartet, dass es mich auch erwischt. Aber ich bin hier.«
Ich sitze angespannt und regungslos da, Schmerzen breiten sich langsamvom Nacken auf den Kopf aus. Der Zweite Weltkrieg war für mich kaum mehr als eine lästige Klausur in der Oberstufe gewesen. Oma Senta hatte nie darüber gesprochen, Reiner wurde danach geboren und interessierte sich sowieso nur für seine pseudowissenschaftlichen Magazine. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand so offen und ausführlich mit mir spricht. Es ist mir unangenehm, aber ich weiß nicht, wie ich das Thema wechseln soll. Lilli fährt ganz in Gedanken versunken fort:
»Ich hatte einen Nachbarn, er hieß Hans. So hießen viele, doch mein Hans war ein anderer Hans. Ein Schriftsteller, ein Schwächling, wunderbar! Er hatte nur noch anderthalb Beine. Trotzdem stand er jedes Mal auf dem Dach und schüttete Wasser aufs Nachbarhaus, wenn dort Feuer ausbrach. Deshalb ist unser Haus, dieses Haus, auch nicht abgebrannt. Natürlich hab ich mich gern revanchiert. Ich mochte ihn, ich war allein. An den Krieg gewöhnt man sich nicht. Je länger man es aushält, desto schlimmer wird es. Die Sirenen, die Panik, zu merken, dass jemand fehlt, der Hunger, die immer gleichen Lebensmittel – ich könnte nie wieder Steckrüben essen. Hans und mich verband einzig und allein der Krieg. Vorher hat er mich nie gegrüßt, so in sich gekehrt war er. Er hasste die Nazis. Auch ich war für ihn so eine deutsche Mutter. Damit hatte er recht, denn mehr war ich auch nicht. Irgendwann, viel zu spät, begriff ich, dass Schreckliches passierte. Mir war alles zu viel, deshalb hab ich keinen
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