Das Schwert des Königs: Roman (German Edition)
leben können, im Einklang mit der Natur und …«
»… und in Verbindung mit dem Geist«, führte Carnahan den Satz gemeinsam mit Betty zu Ende. »Ja, ich kenne die Worte.«
»Weißt aber nicht, was sie bedeuten, Stan. Als wir hierherzogen, haben wir alle bewusst einen Sinneswandel vollzogen. Und ich kann nicht zulassen, dass jemand wie du das herabwürdigt.«
»Jemand wie ich?« Er zwinkerte mir zu.
»Ja. Jemand, der behauptet, ein Gläubiger zu sein, obwohl
er nicht glaubt. Jemand der sagt, er wolle sich ändern, aber es eigentlich gar nicht will. Du bist ein Lügner, Stan, und du und ich sind nicht die Einzigen, die das wissen.«
Stan lächelte mir zu. »Der Sinn für Humor bleibt bei der Erleuchtung immer als Erstes auf der Strecke.«
Betty verdrehte die Augen, grinste plötzlich und verstrubbelte Stan das Haar, als wäre er ein kleiner Junge.
»Du hältst diese Epona also wirklich für eine Göttin?«, fragte ich Betty.
Sie überlegte einen Augenblick. »Weißt du, was ich war, ehe ich hierherkam? Ein Nichts. Nun ja, nicht ganz. Ich habe meinem mittlerweile verstorbenen Mann Kinder geboren und sie später zu Männern wie ihm und Frauen wie mir erzogen – zu Menschen, die der Welt niemals ihren Stempel aufprägen. Der Zahn der Zeit und unser Schicklichkeitsempfinden haben dafür gesorgt, dass sich bei uns alle Ecken und Kanten abgeschliffen haben. Mir war klar, dass nach meinem Tod keine Spuren von mir zurückbleiben würden. Selbst meine Kinder würden bald vergessen haben, wie ich ausgesehen hatte. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, eine Frau, ein Mensch zu sein, der nicht zählte.«
Ihre ganze Haltung veränderte sich. Die belustigte Miene wich einem Ausdruck tiefer Verwunderung, der mich umso mehr beeindruckte, als er völlig aufrichtig wirkte.
»Und dann bin ich Epona begegnet. Sie hat nicht versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich ein falsches Leben geführt oder schlechte Entscheidungen getroffen hatte. Sie … hat mir nur gezeigt, dass noch mehr in mir steckt. Dass ich etwas bewirken kann.«
»Bewirken? Dadurch, dass du in den Wald gezogen bist und eine Schenke eröffnet hast?«, fragte ich und versuchte, nicht allzu ironisch zu klingen.
Sie lächelte auf diese nachsichtige und dadurch besonders aufreizende Art, die die Erleuchteten allen anderen gern entgegenbringen. »Mir ist schon klar, warum du das sagst. Bis auf Feuerameisen ist nichts schwieriger aus der Welt zu schaffen als der Zynismus. Aber sieh dich um: Jeder Ziegel, jeder Querbalken, jedes Buch, jeder Raumschmuck, jedes Möbelstück ist nur deswegen hier, weil ich dafür gesorgt habe. Doch ein Zyniker hat keine Augen dafür und kann es erst recht nicht begreifen. Doch wenn der Zyniker in uns stirbt, kann der Idealist im Mondschein tanzen, das hat Epona mir gezeigt. Und deshalb liebe und verehre ich sie. Aber zurück zu deiner Frage: Ja, ich halte sie für eine Göttin.« Und mit diesen Worten ließ Betty uns allein, um sich um irgendwelche Dinge in der Küche zu kümmern.
»Sie hat sehr entschiedene Ansichten, was Epona betrifft«, bemerkte ich.
»Ach, das haben hier alle«, erwiderte Carnahan. »Eins kann ich dir sagen: Hätte ich nicht versprochen, es ein Jahr lang hier auszuhalten, hätte ich dieses Kaff schon aufgemischt wie irgendeinen Hafenpuff.«
»Und wann ist deine Zeit rum?«
Er zuckte die Achseln. »Das Thema langweilt mich«, erklärte er plötzlich und stand auf. Ich folgte ihm zum Ende des Tresens, wo er Wurfpfeile von einer Scheibe löste. Mit dem Kinn deutete er auf eine große Schale mit Äpfeln. »Nimm die Schale mit nach draußen.«
Mittlerweile war es dunkel geworden, und im Osten
stieg der riesige Vollmond auf. Fackeln tauchten das ganze Dorf in rötliches Licht.
Carnahan steckte die Pfeile in die Wand neben der Eingangstür, behielt einen zurück und machte sich für den Wurf bereit. »Wir können ja wenigstens versuchen, in Form zu bleiben, stimmt’s? Diesen Äpfeln wird’s nicht wehtun. Wirf einen hoch.«
»In welche Richtung?«
»Ich lass mich gern überraschen.«
Also warf ich einen Apfel aufs Geratewohl über die Fackeln hinweg in den dunklen Himmel, während Carnahans Blick nach oben schoss und sein Arm kurz zuckte. Als der Apfel herunterfiel, steckte der Pfeil darin.
»Nicht schlecht«, sagte Betty, die von der Hintertür aus zugesehen hatte.
Grinsend griff Stan in die Schale. »Jetzt bis du dran.«
Nachdem ich mir einen Wurfpfeil geholt hatte, schleuderte er einen Apfel in
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