Das Schwert des Sehers
ich meinen, obwohl wir fast gleich viele Jahre zählen. Und ich muss zugeben, ich spüre diese Jahre mitunter, genau wie die Sünden meiner Jugend und manch unbedachte Bewegung. Die Jugend mag davon nichts wissen, aber ab den besten Jahren merkt wohl jeder, wie die Zipperlein sich in den Körper schleichen.«
Er stellte das Fläschlein auf einem silbernen Tablett zwischen ihnen, wo weitere kleine Flaschen bereitstanden, eine Sammlung von Likören und Weinen und zwei kristallene Gläser.
»Es gibt gewiss Menschen, die den Trank nötiger hätten«, sagte Dauras. »Helft denen.«
»Wer außer dem Höchsten kann schon sagen, wer die Heilung nötiger hat?«, erwiderte der Kanzler. »Ich habe Männer gesehen, mit denen sprach ich an dem einen Tag, und am nächsten waren sie tot. Sie waren jünger als ich, das blühende Leben, und doch hatten sie bereits eine zehrende Krankheit in den Eingeweiden, ohne es zu ahnen, oder wurden vom Schlag niedergestreckt. Der Theriak heilt alle Gebrechen, die kleinen wie die großen, selbst jene, die man gar nicht als Krankheit empfunden hat.
Außerdem, wo wäre das Opfer und die Geste, wenn ich meine Gabe knausrig nach dem größten Nutzen abmessen würde? Es ist das Vertrauen zwischen uns beiden, das ich damit wiederherstellen will.«
Dauras spürte in den Kanzler hinein, in den Trank, in die Stimmung der anderen Gäste. Wollte Arnulf von Meerbergen ihn vergiften? Er konnte es sich kaum vorstellen. Ein solcher Anschlag wäre zu einfach, und er würde unweigerlich auf den Kanzler selbst zurückfallen, nachdem der diese »Gabe« vor all den Zeugen angeboten hatte.
Zudem fühlte Dauras keine Lüge bei den Worten des Kanzlers. Die Gefühle in seinem Gegenüber waren … vielschichtiger. Das Angebot des Kanzlers enthielt mehr, als es auf den ersten Blick erschien, so viel war Dauras klar. Aber er wusste nicht, wo genau der Fallstrick verborgen war.
»Es sei denn natürlich«, fügte Arnulf mit einem Lächeln hinzu, »Er fürchtet sich, mit mir auf die Versöhnung anzustoßen.«
Womöglich, überlegte Dauras, ging es gerade darum: umdas Angebot selbst, nicht um das, was angeboten wurde. Wollte Arnulf von Meerbergen ihn vor allen als schwach und ängstlich oder undankbar vorführen?
»Ich fürchte nichts.« Dauras starrte den Kanzler an. »Und niemanden.«
Er nahm das Fläschchen vom Tablett und zog den Glasstopfen heraus. Zunächst wollte er gleich einen Schluck nehmen, getrieben von Trotz und Zorn. Doch im letzten Augenblick besann er sich und goss die Hälfte des Inhalts in eines der Gläser. Er leerte es in einem Zug.
»So viel zum Anstoßen«, sagte der Kanzler. »Wohlan. Sie sollten mit ein wenig Wein nachspülen, denn der Tropfen, der im Glas zurückgeblieben ist, kostet vermutlich mehr, als Sie je im Leben besitzen werden.«
Er goss sich ein wenig Wein ein, gab den Rest des Fläschchens dazu und leerte das Glas. Genießerisch ließ er den Schluck im Mund kreisen. Dann verzog er das Gesicht und schluckte.
»Es ist teuer und hoffentlich wirksam«, sagte er. »Aber es verdirbt den Wein.«
Er streckte sich, bewegte die Finger, drehte die Schultern. Ging ein paar Schritte von dem Tischchen weg. Die Gäste im Raum starrten neugierig auf Dauras und den Kanzler. Doch kein magisches Leuchten stieg von den beiden Männern auf, keiner wand sich unter Krämpfen, keiner veränderte sich auf unheilige Weise.
Nach und nach wandten die Gäste sich ab und plauderten leise miteinander.
Einer der Ritter aus Arnulfs Gefolge nahm unauffällig das Fläschchen. Er spülte es mit Schnaps aus und kippte den Inhalt hinunter.
Arnulf trat zu Dauras. »Was meinen Sie, mein Freund? Wenig aufsehenerregend. Aber ich fühle mich etwas jünger.Wenn das nur eine Täuschung sein sollte, werde ich ein ernstes Wort mit unserer Hofmagisterin reden und eine ganze Menge Gold zurückverlangen.«
Er lachte und klopfte Dauras auf die Schulter.
Das Erste, was Dauras spürte, war ein Kribbeln in der linken Hand. Gebannt verfolgte er, wie die letzten Spuren der Prellung verschwanden, die er von dem Bleigeschoss vor zwei Monaten zurückbehalten hatte.
Dann kribbelten seine Finger, seine Schultern, seine Knie … Es war eigentümlich, wie kleine Beeinträchtigungen von ihm wichen, von denen er kaum etwas bemerkt hatte. Sie hatten sich unmerklich in seinen Körper geschlichen, aber als sie von einem Augenblick auf den anderen fort waren, bemerkte er sie doch. Der Kanzler hatte nicht gelogen – sein Trank
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