Das Schwert des Sehers
mit dem Daumen. Das Holz war leicht angeschliffen, aber natürlich konnte es seine Haut nicht ritzen. Dennoch, bei aller Verachtung, die er gezeigt hatte: Er wusste aus dem Tempel, dass ein Holzschwert eine tödliche Waffe sein konnte.
In den richtigen Händen.
Als Meris zurückkehrte, fand sie im Treppenhaus eine Leiche. Der Körper lag auf dem vorletzten Absatz der Treppe und sah in seiner verkrümmten Haltung so aus, als wäre er heruntergestürzt. Aber die Verletzungen rührten nicht von einem Sturz her. Der Oberkörper wies eine Stichwunde durch den ganzen Brustkorb auf, von den Rippen am Rücken bis zu einer Austrittswunde unter dem Brustbein. Außerdem war ein Arm gebrochen, und im Gesicht klaffte eine Schnittwunde, durch die man den zertrümmerten Wangenknochen sah.
Meris stieß einen unterdrückten Fluch aus. Sie zog das Kurzschwert und stürmte die letzten Stufen hinauf. Auf demobersten Treppenabsatz lag ein weiterer Toter. Auch er hatte eine tödliche Verletzung am Rücken. Was auch immer die Männer hier gewollt hatten – Dauras hatte sie erschlagen, als sie vor ihm fliehen wollten.
Die Spuren des Gemetzels zogen sich bis in die Stube. Zwei weitere Tote mit klaffenden Wunden lagen in dem Raum. Einem von ihnen war der Schädel zertrümmert worden, sodass er aussah wie ein ungeschickt aufgeschlagenes Ei. Auf dem Boden war eine Blutlache, und Blut war an die Wände gespritzt.
Dauras saß auf ihrem Sessel, mit einem gesplitterten und blutverschmierten Holzschwert in der Hand. Auf seinem Gesicht lag ein versonnenes Lächeln. Sein nackter Leib war mit getrocknetem Blut verkrustet.
»Was ist …«, stieß Meris hervor. »Was hast du getan? Geht es dir gut?«
Dauras hob den Kopf. »Ja«, sagte er. »Ich habe gekämpft.«
Meris blickte noch einmal um sich. Dann steckte sie die Waffe weg. Angewidert stieg sie über die Blutlache. »Das sieht nicht nach einem Kampf aus, sondern nach einem Schlachtfest. Was bei allen Höllen ist hier passiert?«
»Es war aber ein Kampf«, sagte Dauras. »Ich weiß nicht, wann ich zuletzt einen solchen Kampf geführt habe – einen Zweikampf auf Leben und Tod, bei dem ich ernsthaft in Gefahr geraten bin. Ich fühle mich großartig!«
»Ich erinnere mich an die Schleudern. Die sahen damals gefährlich genug für mich aus.«
»Schleudern, Netze, Fallen«, erwiderte Dauras. »Feuer, Drachen, Käfer – das ist nicht dasselbe. Ich habe eine Menge erlebt, was mich bedrohen konnte. Aber das war mein erster Kampf Mann gegen Mann. Ich muss noch ein Kind gewesen sein, als ich mich das letzte Mal verletzlich gefühlt habe, mit dem Schwert in der Hand gegen einen Menschen.
Und dieses Mal war es echt, und ich habe gewonnen.«
»Bist du verletzt?«
Dauras schüttelte den Kopf. »Ich hätte verletzt werden können. Ich konnte nicht jeden Angriff richtig wahrnehmen, und ich musste oft im letzten Moment reagieren. Aber es ist nichts passiert.«
»Du hättest nicht so viel Dreck machen müssen«, sagte Meris. »Da liegt eine Leiche unten auf der Treppe!«
»Na und?«, gab Dauras zurück. »Hast du nicht gesagt, in dieser Stadt kümmert sich niemand mehr um irgendwas?«
»Ich wollte das nicht auf die Probe stellen«, entgegnete Meris. »Wir verstecken uns, wenn du das vergessen hast.«
Sie ging nach draußen und schleifte die beiden Toten aus dem Treppenhaus in ihre Wohnung ab. Sie schob alle vier Leichen in eine Ecke des Raumes und legte sie dort übereinander. Als sie fertig war, saß Dauras immer noch auf dem Sessel.
»Ich werde das ganze Blut nicht allein wegwischen«, sagte sie.
»Wusstest du, dass das Blut seine Farbe ändert? Wenn es trocknet?«, fragte Dauras unvermittelt. »Ich habe es beobachtet. Es war faszinierend.«
Meris schüttelte sich. »Weißt du, dass du dich vollkommen wahnsinnig anhörst?«
Dauras verzog das Gesicht. »War es nicht das, was du erreichen wolltest?«, fragte er. »Warum du diesen ganzen Aufwand getrieben hast? Damit ich wieder kämpfen kann?«
Meris betrachtete die Toten. »Die sehen aus wie Straßenratten. Lange Messer, keine Rüstungen. Jeder gewöhnliche Krieger hätte sie erledigen können. Das ist nicht beeindruckend. Wollten sie uns überfallen?«
Dauras nickte. »Es war trotzdem mein erster ernsthafter Kampf, seit …« Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich binwieder ein guter Krieger! Wir können uns überlegen, wie wir gegen den Kanzler vorgehen.«
»Ein guter Krieger reicht nicht aus«, sagte Meris. »Ich brauche
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