Das Schwert des Sehers
Aruda.
Meris wand sich. »Prinzessin Aruda«, sagte sie schließlich.»Euer Vater ist vor sechs Tagen gestorben. Der Kronrat hat Euren Anspruch anerkannt. Meine neuen Befehle lauten, dass ich die Thronfolgerin so schnell wie möglich zurück in die Hauptstadt bringe. Am besten, bevor es sich unter den Fürsten herumspricht, dass der Thron unbesetzt ist und sie einen Zug machen können.«
24.10.962 – WESTLICH DES JAGADWALDS
A m Rande des Jagadwalds hielten sie inne. Aruda blickte über Meris’ Schulter sehnsüchtig auf das, was vor ihnen lag: ein Gasthaus mit Ställen und Nebengebäuden und einem hohen Palisadenzaun inmitten von Wiesen und Feldern. Es war eine große Wegstation, die selbst schon aussah wie ein kleines Dorf.
In den letzten vier Tagen hatten sie sich oft genug durch verwilderte Brachen und Wälder schlagen müssen. Dauras hatte sie in einem weiten Bogen um Reppelen herumgeführt und um alle anderen Ansiedlungen, an denen sie vorbeikamen. Die Wege durch Felder und Wälder, die er auswählte, führten allzu oft in die Irre oder verloren sich im Nirgendwo. Doch dann waren sie hinter Reppelen wieder auf die Hauptstraße gestoßen, und ein weiterer Tagesritt hatte sie durch den Forst und hierher gebracht.
Auch Meris spähte zu dem Wegposten hinüber. »Dort gibt es eine Botenstation. Endlich frische Pferde! Zwischendrin habe ich kaum noch daran geglaubt, dass wir überhaupt irgendwo herauskommen. Und ich dachte, du warst schon mal in der Gegend?« Sie sah Dauras vorwurfsvoll an.
»He«, erwiderte Dauras. »Was erwartet ihr, wenn ihr euch einem Blinden als Führer anvertraut?«
»Ach, jetzt erinnert sich der Herr wieder daran, dass er blind ist?«
»Können wir dort einkehren?«, fragte Aruda. »Es ist bald Abend, und ich bin die Nächte im Freien allmählich leid.«
»Wenn wir uns da sehen lassen«, sagte Dauras, »weiß jeder, wo wir sind.«
»Na und?«, entgegnete Meris. »Wenn wir wie die Botenreiter an jeder Station die Pferde wechseln, schaffen wir die Strecke zur Hauptstadt an einem Tag. Wenn uns jemand erkennt, reiten wir ihm einfach davon.«
Dauras musterte die Prinzessin. Ihre Stimme hatte rau und verschnupft geklungen, und er fühlte, wie eine Krankheit in ihr aufstieg. Die letzten Tage waren fast sommerlich gewesen, die Nächte hingegen umso kälter. Und sie hatten bei der Flucht aus dem Lager kaum Decken oder Gepäck mitnehmen können. »Lasst uns bis zum Einbruch der Dunkelheit weiterreiten«, schlug er vor. »Dann steigen wir in einem kleineren Gasthaus ab. Es nutzt nichts, wenn wir allen Verfolgern davonreiten und die Kleine sich in der Kälte den Tod holt.«
Meris schnaubte bei dem Wort »Kälte«. »Die große Wegstation dürfte sicherer sein.«
»Aber sie wird bestimmt überwacht. Und wenn wir uns die Nacht über ausruhen, können wir nicht mehr auf den Vorteil vertrauen, von dem du gesprochen hast.«
Meris zögerte. Mit einem letzten Blick auf die befestigte Station gab sie schließlich nach.
Sie blieben auf der Hauptstraße, trotz der übrigen Reisenden, die dort unterwegs waren. Meris wies auf die Dörfer entlang der Straße, manche in Sichtweite, andere durch Wegweiser an den zahllosen einmündenden Wegen gekennzeichnet. Dauras schüttelte jedes Mal den Kopf. »Keine Dörfer«, sagte er. »Je weniger Leute uns zu sehen bekommen, umso besser für uns. Ich suche nach einem einzeln gelegenen Gasthaus.«
Die Sonne sank rasch, und sie ritten durch die Dunkelheit. Die Pferde trotteten müde dahin und blieben stehen, wann immer die Reiter in ihrer Aufmerksamkeit nachließen. Da richtete Aruda sich im Sattel auf.
»Da vorn ist ein Licht!«
»Noch ein Dorf abseits der Straße, das dem Herrn Mönch nicht gut genug ist«, bemerkte Meris.
»Nein«, sagte Aruda. »Es ist ganz nah … und ziemlich klein. Ein, zwei erleuchtete Fenster, mehr nicht.«
»Das wird ein Einödhof sein.« Meris sah Dauras an.
»Ich merke nichts«, antwortete er. »Es ist zu weit für mich.«
Als sie näher kamen, schälten sich die Umrisse von zwei Fenstern aus der Finsternis, und eine Lampe, die über einer Seitentür brannte.
Dauras konzentrierte sich. »Zwei Bewohner«, stellte er fest.
»Also kein Gasthaus«, erwiderte Meris.
Dauras schritt langsam weiter. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Es fühlt sich nicht an wie ein Bauernhof. Es hat eine Art Gaststube und viele Betten. Da baumelt ein Schild vor dem Haupteingang, aber der liegt im Dunkeln.«
Sie erreichten den Abzweig, der von der
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