Das Schwert des Sehers
Grafen haben mehr Land und Lehnsleute als bares Geld. Sie würden die Ritter schicken, die ihnen verbunden sind. Zumindest verrät uns das, dass keiner von diesen Herren dahintersteckt, sondern jemand, der über Gold verfügt. Vielleicht sogar ein ganzer Kreis bei Hofe, der mit der Thronfolge nicht einverstanden ist.«
»Wenn die Hintermänner bei Hofe sitzen«, gab Dauras zu bedenken, »reiten wir Ihnen direkt in die Arme.«
»Ich begegne lieber einem Haufen Höflinge und ihrem Gold im Palast«, sagte Meris, »als ihren bezahlten Meuchelmördern allein in deren Hauptquartier. Wir sollten schnell wieder aufbrechen.«
»Wollen sie mich wirklich umbringen?«, fragte Aruda. »Ach, ich wäre am liebsten an keinem von diesen Orten!«
Dauras und Meris schauten sie an. Dauras hob das Schwert. »Das mag ihr Hauptquartier sein, aber im Augenblick suchensie uns anderswo. Ich glaube nicht, dass sie heute Nacht zurückkommen«, sagte Dauras.
Meris zögerte. »In der Höhle des Löwen«, murmelte sie. »Aber du hast vermutlich recht. Wenn bis jetzt keiner von ihnen hier aufgetaucht ist, werden sie anderswo ein Nachtlager haben.«
25.10.962 – IM GASTHAUS ZUM HALBMOND
M eris fuhr hoch. Es war dunkel in dem Raum, und eine Hand lag auf ihrer Schulter. Sie hörte Dauras’ Stimme. »Wir haben Besuch.«
Sie brauchte einen Augenblick, um die Benommenheit abzuschütteln und sich daran zu erinnern, wo sie waren: im ersten Stock des kleinen Gasthauses. Sie saß in ihrem Bett. Die leblose Wirtin hatten sie in den Stall gebracht und den Wirt in den Vorratskeller gesperrt. Jetzt erkannte sie auch die grauen Umrisse des Fensters und Dauras’ Gestalt. Er hatte kein Licht entzündet und stand reglos neben ihr.
»Was ist los?« Unwillkürlich flüsterte sie, obwohl Dauras das nicht für nötig gehalten hatte.
»Etwa zwei Dutzend Männer«, sagte er. »Sie haben das Haus umstellt. Fünf von ihnen sind auf dem Dach, zwei mit Bögen, und drei … halten Seile in der Hand.«
»Seile?« Meris war jetzt hellwach.
»So fühlt es sich an«, erwiderte Dauras. »Ich weiß auch nicht, was das soll. Vielleicht wollen sie uns damit fangen.«
»Du hattest doch gesagt, sie kommen diese Nacht nicht mehr.« Meris wunderte sich selbst, wie vorwurfsvoll ihre Stimme klang. »Wie spät ist es eigentlich?«
»Die Geisterstunde hat gerade erst angefangen. Und die Wirtin … sie ist nicht mehr dort, wo wir sie hingelegt haben. Anscheinend war doch kein Gift in dem Bier, nur etwas, um uns zu betäuben. Sie muss sich davongeschlichen haben, als sie wach wurde, und hat unseren Verfolgern Bescheid gegeben.«
»Wie kann das sein? Warum hast du nichts davon bemerkt? Wie konnten sie überhaupt so nah herankommen?«
Meris hörte, wie sich jetzt auch Aruda in dem anderen Bett regte. »Was ist?«, fragte diese verschlafen in den Raum.
»Ich habe nicht aufgepasst«, sagte Dauras. »Ich habe … geschlafen.«
»Oh«, sagte Meris.
»Was?«, fragte Aruda verwirrt.
»Unsere Verfolger stehen vor der Tür«, erklärte Meris ihr hastig. »Zieht Euch an, aber ohne Licht und ganz leise.«
Sie selbst schwang sich aus ihrem Bett. Sie war erschrocken darüber, wie erschrocken sie war – wie sehr sie sich auf Dauras und seine übernatürliche Wahrnehmung verlassen hatte! Der blinde Mönch schien immer alles zu wissen, er konnte durch Wände und in die Herzen der Menschen blicken, bei Dunkelheit wie bei Tage gleichermaßen. Doch natürlich hatte auch seine Aufmerksamkeit Grenzen.
»Was nun?«, fragte sie, während sie ihre Kleidung anlegte.
Dauras bewegte sich. Meris sah sein Schwert aufblitzen in einem Mondstrahl, der den Weg durch das Fenster fand. »Wir gehen hinaus. Ich zeige unseren Verfolgern, dass sie nicht genug Leute haben, um mich aufzuhalten.«
»Dein Plan gefällt mir nicht«, sagte Meris. »Es reicht nicht, wenn du deine Feinde besiegst. Wir müssen auch die Prinzessin beschützen. Im Kampfgetümmel kannst du nicht auf sie achtgeben.«
»Je schneller wir sie fortbringen, desto besser«, sagte Dauras. »Wir stürmen durch die Vordertür. Ich gehe voraus und mache den Weg frei. Ihr lauft an mir vorbei, und ich bleibe hinter euch und biete euch Schutz vor den Bogenschützen auf dem Dach. Ein paar Augenblicke, dann gibt uns die Dunkelheit Deckung.«
»Warum der Vordereingang?«, fragte Aruda. »Da warten doch bestimmt die meisten von ihnen.«
»Vor dem Haus stehen ihre Pferde. Die haben sie bei denObstbäumen zurückgelassen. Wenn wir den
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