Das Schwert in Der Stille
wurde mir klar, dass sie fraglos seine Tochter war. Er folgte mir zurück in den Fluss.
KAPITEL 12
Kaede wartete auf die kommende Nacht. Sie wusste, dass ihr keine Wahl blieb, als sich zu töten. Ans Sterben dachte sie mit der gleichen Intensität, die sie auf alles verwandte. Die Ehre ihrer Familie hing von ihrer Hochzeit ab - so hatte es ihr der Vater erklärt. Jetzt, in der Verwirrung und Unruhe, die sie den ganzen Tag umgab, klammerte sie sich an die Überzeugung, dass sie ihren Familiennamen nur schützen konnte, indem sie selbst ehrenhaft handelte.
Es war früh am Abend ihres geplanten Hochzeitstags. Sie hatte immer noch die Gewänder an, die von den Tohandamen für sie vorbereitet worden waren. Noch nie hatte sie so etwas Prächtiges und Elegantes getragen, und sie fühlte sich darin so winzig und zerbrechlich wie eine Puppe. Die Augen der Frauen waren rot vom Weinen über Lady Maruyamas Tod gewesen, doch Kaede hatte bis nach dem Massaker an den Otorimännern nichts davon erfahren. Dann wurde ihr von einem Gräuel nach dem anderen erzählt, bis sie glaubte, vor Zorn und Leid verrückt zu werden.
Der Palast mit seinen eleganten Räumen, seinen Kunstschätzen, seinen schönen Gärten war ein Ort der Gewalt und der Folter geworden. Von seiner Mauer über dem Nachtigallenboden hing der Mann, den sie hätte heiraten sollen. Den ganzen Nachmittag hatte sie die Wachen gehört, ihren Spott und ihr gemeines Gelächter. Ihr Herz schien vor Schmerz zu brechen und sie weinte ständig. Manchmal hörte sie, dass ihr Name erwähnt wurde, und es war ihr klar, dass ihr Ruf noch schlimmer geworden war. Sie hatte das Gefühl, an Lord Otoris Sturz schuld zu sein. Sie weinte um ihn, um seine schreckliche Demütigung durch Iida. Sie weinte um ihre Eltern und die Schande, die sie ihnen bereitete.
Gerade als sie glaubte, sie hätte ihre Augen trocken geweint, strömten ihr von neuem die Tränen übers Gesicht. Lady Maruyama, Mariko, Sachie… sie alle waren fort, vom Strom der Tohangewalt davongetragen. Alle Menschen, an denen sie hing, waren entweder tot oder verschwunden.
Und sie weinte um sich, weil ihr Leben mit fünfzehn Jahren vorbei war, bevor es begonnen hatte. Sie betrauerte den Ehemann, den sie nie kennen, die Kinder, die sie nie gebären würde, die Zukunft, der das Messer ein Ende machen sollte. Ihr einziger Trost war das Bild, das Takeo ihr geschenkt hatte. Sie hielt es in der Hand und betrachtete es unausgesetzt. Bald würde sie frei sein wie der kleine Bergvogel.
Shizuka ging in die Küche, um ein wenig Essen bringen zu lassen, und beteiligte sich im Vorbeigehen scheinbar herzlos an den Scherzen der Wache. Als sie zurückkam, ließ sie die Maske fallen. Ihr Gesicht war von Kummer gezeichnet.
»Lady«, sagte sie, und ihre helle Stimme täuschte über ihre wahren Gefühle hinweg, »ich muss Ihr Haar kämmen. Es ist ganz wirr. Und Sie müssen Ihre Kleider wechseln.«
Sie half Kaede beim Ausziehen und rief die Dienstmädchen, damit sie die schweren Hochzeitsgewänder wegbrachten.
»Ich ziehe jetzt mein Nachtgewand an«, sagte Kaede. »Heute will ich niemanden mehr sehen.«
In dem leichten Baumwollhemd saß sie am offenen Fenster auf dem Boden. Es regnete leicht, auch war es etwas kühler. Der Garten tropfte vor Feuchtigkeit, als wäre auch er in tiefster Trauer.
Shizuka kniete sich hinter sie, hob das schwere Haar hoch und fuhr mit den Fingern hindurch. Sie flüsterte Kaede ins Ohr: »Ich habe eine Botschaft zum Haus der Mutos in der Stadt geschickt. Gerade habe ich Antwort von ihnen bekommen. Takeo war dort verborgen, wie ich es angenommen hatte. Sie werden ihm erlauben, Lord Otori zu holen.«
»Ist Lord Otori tot?«
»Nein, noch nicht.« Shizukas Stimme brach. Sie zitterte vor Empörung. »Dieses Verbrechen«, murmelte sie, »diese Schande. Er kann dort nicht bleiben. Takeo muss ihn holen.«
Kaede sagte: »Dann wird auch er heute sterben.«
»Mein Bote versucht auch Arai zu erreichen«, flüsterte Shizuka. »Aber ich weiß nicht, ob er rechtzeitig kommen und uns helfen kann.«
»Ich habe nie geglaubt, dass jemand die Tohan herausfordern könnte«, sagte Kaede. »Lord Iida ist unbesiegbar. Seine Grausamkeit gibt ihm Macht.« Sie schaute aus dem Fenster auf den Regen, den grauen Nebel, der die Berge verhüllte. »Warum haben Männer eine so harte Welt gemacht?«, fragte sie leise.
Ein Zug wilder Gänse flog mit klagenden Schreien über sie hinweg. In der Ferne jenseits der Mauern bellte ein
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