Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
überschütten.«
Wir bogen auf die Hauptstraße ein. Sie war so breit, dass mehrere Karren nebeneinander fahren konnten. Die lange Reihe des Kreuzzugs zog sich zusammen. Es bildeten sich Gruppen, die Gespräche wurden lauter. Wir gewöhnten uns allmählich an den Anblick der Alpen.
An einer Zollstation, die nur aus einem Schlagbaum und ein paar Hütten am Seeufer bestand, begegneten wir einigen Soldaten. Sie winkten uns durch. Einer ließ sich von Nicolaus segnen, während die anderen zusahen und den Kopf schüttelten. In ihrem seltsamen Dialekt sagten sie etwas, das ich nicht verstand. Es klang jedoch freundlich.
Bislang hatten wir nur in Burgund Zoll auf unsere Vorräte zahlen müssen. In allen anderen Fürstentümern und Grafschaften hatte man darauf verzichtet. Ich hoffte, dass sich daran nichts änderte, denn das Geld wurde knapp. Seit Basel hatten wir keine Stadt mehr betreten, hatten weder betteln noch Wertsachen verkaufen können. Die Anzahl der Mehlsäcke und Dörrfleischfässer auf den Karren nahm ständig ab. An den Blicken, die manche darauf warfen, erkannte ich, dass auch sie sich Sorgen zu machen begannen.
Wir lagerten am Südufer des Sees. Ich ging an den Feuern vorbei, bis ich jenes fand, an dem sich die Soldaten niedergelassen hatten. Diegos Pferd graste festgebunden an einem Pflock, er selbst saß einige Schritte entfernt auf einem Stein und nahm Fische aus, die er wohl einer der Frauen abgekauft hatte, die uns im Lager aufsuchten, um den Fang ihrer Männer anzubieten. Er hob den Kopf, als er mich sah. Ich nickte und ging in Richtung der bewaldeten Hügel. Diego folgte mir nach einem Moment.
»Jemand hat uns gesehen«, sagte ich, als wir das Lager verlassen hatten und allein zwischen hochgewachsenen Tannen standen.
Ihm war sofort klar, was ich damit meinte.
»Das kann nicht sein. Es war niemand außer uns im Zimmer.« In der Dämmerung wirkten seine Augen schwarz.
»Vielleicht hat jemand nur kurz die Tür geöffnet und hineingesehen.« Ich atmete tief durch. Die Angst, die ich den ganzen Tag über unterdrückt hatte, kehrte zurück. »Konrad hat gehört, wie Lukas das Wort Judenhure benutzte.«
Es auszusprechen widerte mich an.
Diego stieß einen kurzen, scharfen Fluch in einer Sprache aus, die ich nicht verstand. Dann fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare. »Bist du sicher, dass er dich meinte?«
Ich hätte beinahe gelacht. »Wen sollte Lukas denn sonst meinen?«
Diego schien etwas entgegnen zu wollen, verzog dann aber nur das Gesicht. Einen Moment lang standen wir uns schweigend gegenüber. Ein Vogel flatterte irgendwo empor. Die Gespräche an den Feuern waren nicht mehr als ein entferntes Raunen und Säuseln, ein Hintergrundgeräusch wie das Rauschen eines Flusses.
»Es tut mir leid«, sagte Diego plötzlich. Er streckte die Hand aus. Ich ergriff sie, ohne nachzudenken, spürte, wie seine Finger sich um die meinen schlossen. Es war ein schönes Gefühl.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Abwarten, was Lukas mit seinem Wissen anfängt. Halt dich fern von ihm, misch dich nicht in seine Angelegenheiten ein, bleib ruhig.«
»Aber er hat Gottfried schon alles erzählt.«
Diego schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, was er Gottfried erzählt hat. Lukas ist schlau. Er wird das, was er weiß, erst einsetzen, wenn es ihm einen Vorteil bringt. Du musst nur dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt.«
Meine Hand lag warm in der seinen. »Und was ist mit dir?«
»Mir wird schon etwas einfallen.« Ich spürte sein Lächeln mehr, als dass ich es sah. Er ließ meine Hand los. »Geh vor, ich warte noch ein wenig, damit man uns nicht zusammen sieht.«
Ich zögerte. So viele Fragen gingen mir durch den Kopf, so viele Dinge, die ich wissen wollte, aber nicht zu fragen wagte. Wieso schloss sich ein Jude einem Kreuzzug an? Wer waren die Männer, die uns in Speyer angegriffen hatten? Hatten uns wirklich nur Trunkenheit und Wollust übermannt, oder gab es mehr zwischen uns?
Im Zentrum von allem stand jedoch eine Frage, so wie die Erde im Zentrum des Himmels stand, und alle anderen Fragen kreisten um sie.
Ich hob den Kopf und sah Diego an. »Wie ist es, Jude zu sein?«
Er lachte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er das tun würde.
»Wie ist es, Christin zu sein?«
Ich wand mich aus der Frage heraus, wusste nicht, wie ich sie beantworten sollte. »Ich bin so geboren. Es …«
Diego ließ mich nicht ausreden. »Und ich wurde als Jude geboren. Wo ist da der
Weitere Kostenlose Bücher