Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
gewinnt einen zusätzlichen Freiheitsgrad.«
Und diese Freiheit bezieht sich nicht nur auf die »formal-symbolische« Dimension, sondern auch auf die inhaltliche. »Das Zentrale ist die Idee, nicht die Theorie« – so lautete der Slogan einer amerikanischen Projekt-Ausstellung in New York aus dem Jahr 2010. Die Ideen stellen eine dritte Kategorie zwischen Theorie und Praxis dar als Konstrukt aus eigenem Recht; gerade das macht ihre befreiende Komponente aus. Eine solche Haltung ist ein Ausdruck amerikanischen Denkens (man muss etwas nicht von vornherein kritisch begründen), während Lem mehr für eine europäische Einstellung steht (aus einer konsistenten Theorie wird die Praxis abgeleitet). In diesem Zusammenhang ist es keine Überraschung, dass sich die moderne Science Fiction als Ideen-Literatur besonders in den USA durchgesetzt hat. Eine SF-Idee muss nicht streng theoretisch oder empirisch ableitbar sein, ihr Geltungsbereich liegt irgendwo zwischen einer ausgearbeiteten begründeten Theorie und einer erschöpfend beschreibbaren Praxis. Sie behandelt eine Idee der Zukunft neben anderen Aspekten wie Alternativgeschichte oder Kontakt mit fremdartigen Intelligenzen. Naturgemäß spielen Technik und Wissenschaft bei der Gestaltung von Zukunft eine bedeutende Rolle, aber keine ausschließliche. In dieser Hinsicht ist eben Ballards »Paradiese der Sonne« ein SF-Roman, weil er eine eigenartige Perspektive auf eine zukünftige Welt im Umbruch zeichnet. Dabei favorisiert Ballard jedoch Stimmungsbilder und keine technischen Skizzen.
Nehmen wir als konkretes Ideen-Beispiel den Cyberspace, der von William Gibson Anfang der Achtziger des letzten Jahrhunderts eingeführt wurde. Seine bildhafte Gestaltung hat wenig mit der tatsächlichen Entwicklung von Internet- oder VR-Technologien zu tun, aber er vermittelte unter anderem zum ersten Mal die aufregende Ahnung einer Virtualität, einer technisch erzeugten »Parallelwelt« mit ihren Chancen und Gefahren. Ein gutes Science-Fiction-Symbol ist immer wieder »aufladbar« mit neuen zeitbedingten Zusatzideen, ohne seine tradierte Verdichtungsfähigkeit und Attraktion für Assoziationen zu verlieren. Es bündelt Vorgänge einer multikontexturellen Bezeichnung, die wissenschaftlich sein können, aber auch popkulturell. Andere Symbole von anderen Autoren, die zur selben Zeit wie der Cyberspace entstanden und ebenso eine virtuelle Welt bezeichneten, waren offenbar nicht so überzeugend in ihrer Wirkmächtigkeit. Der Cyberspace ist keine exakte Vorwegnahme, eher eine Leitidee für einen ganzen Kanon an Folgeideen. Außerdem liegt, was seine gesellschaftliche Durchsetzung betrifft, auch ein Lem mal empirisch falsch. 1992 prognostizierte er in dem Essayband »Die Vergangenheit der Zukunft«, dass das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine wahre Flut an VR-Technologien erleben werde – offenbar eine Fehlprognose. Die Qualität der Science Fiction erweist sich sowieso nicht darin, ob sie kommende Technologien richtig prognostiziert oder nicht. Wissenschaftliche Elemente können ihr Konzept tragen, aber es müssen nicht ausschließlich solche sein – im Laufe der Lektüre eines Romans tauchen derart viele Elemente auf, die nicht alle logisch-geschlossen sein können.
Im schon erwähnten Aufsatz »Die SF – strukturalistisch gesehen« bezeichnet Lem die Science Fiction als »endgültige« Art der Phantastik. Geleitet ist sie für ihn von der Suche nach den »Grenzzonen« des Menschen, der Vernunft, der Gesellschaft. Die phantastische »Vernunft« umfasst dabei die naturwissenschaftliche, ohne auf diese reduzierbar oder gar durch diese garantiert zu sein. Die Science Fiction ist ein Spiel mit rationalen Elementen, die aber nicht – um des Spiels willen – bis zur letzten Konsequenz »durchrationalisiert« sein müssen: Das Gefühl der Anders-, Fremdartigkeit bleibt bedeutsamer als die logische Plausibilität (die auch gar nicht umfassend möglich ist, sondern nur partiell). Das heißt nicht, dass sich die Science Fiction keine Regeln geben kann. Die phantastische Vernunft findet ihren Ausdruck in der kontrollierten Spekulation. Die Science Fiction kann Problemzusammenhänge, die erst in Ansätzen existieren, mittels ihrer eigenen Gestaltungslogik zu Ende »spinnen« (ohne dass eine eindeutige Konsequenz möglich wäre, da niemand die Zukunft vorhersagen kann). Sie kann solche Probleme überzeichnen, verfremden, da nur die Wahrscheinlichkeit, die Adäquatheit ihrer Rahmenbedingungen
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