Das sechste Opfer (German Edition)
auf.
Mein nächster Anruf galt Dr. Janosch. Er hatte ihn offenbar schon erwartet und ging sofort ans Telefon.
Ich hatte keine Ahnung, ob er vielleicht nicht doch unterdessen die Polizei informiert hatte und nun auch verdrahtet war, aber das Risiko musste ich eingehen. »Na endlich«, antwortete er auf meine Begrüßung. Seine Stimme klang angespannt.
»Die Beerdigung ist um neun.«
»Danke.« Danach Schweigen.
»Denken Sie an die Blume?«
»Sie hatten Recht.«
»Was?« Dieser Satz kam so unvermittelt, dass ich erst gar nicht wusste, was er damit meinte.
»Wissen Sie, ich habe mich daran erinnert, dass wir noch Franz' Schlafanzug hier hatten. Seine Mutter hatte neue Sachen für ihn mitgebracht, als sie ihn abholte, und sie hat seine alten Sachen, mit denen er hier eingeliefert wurde, hier gelassen. Und die waren noch im Keller, sollten eigentlich schon längst vernichtet werden. Und da war noch Erbrochenes dran. Mageninhalt.«
Die Anspannung ließ den Hörer in meiner Hand zittern. »Und was haben Sie gefunden?«
»Aconitin. Ein Pflanzengift, kommt im Eisenhut vor. Er muss eine mehrfach letale Dosis zu sich genommen haben, da die restlichen Symptome wie Lähmung oder marmorierte Haut nicht aufgetreten sind, sondern sofort Herzstillstand durch Kammerflimmern. Ich denke nicht, dass er sehr gelitten hat.«
Letzteres sollte mich trösten, aber das tat es nicht. Franz war gestorben, weil ich ihn mit meiner idiotischen Idee angesteckt und zu gefährlichen Recherchen veranlasst hatte. Er war ermordet worden. Wegen mir.
Ich konnte nichts sagen, also schwieg ich, bis Dr. Janosch sich räusperte. »Sind Sie noch dran?«
»Ja. Danke.«
»Ich muss das melden, was bedeutet, dass Ihr Freund vielleicht nicht beerdigt werden kann. Ich wollte Ihnen das nur vorher sagen.«
»Tun Sie es lieber nicht. Sonst enden Sie so wie ich. Oder wie Franz.«
»Was?«
»Es hat keinen Sinn, glauben Sie mir. Da hängt auch der Staatsanwalt mit drin und was weiß ich noch wer. Tun Sie sich den Gefallen und lassen Sie es dabei.«
»Aber wenn der Mörder überführt wird, kann Ihnen das vielleicht auch helfen.«
»Das kann es mit Sicherheit nicht. Da wird kein Mörder gefunden, es hat keinen Zweck.« Ich konnte selbst kaum glauben, wie resigniert ich klang. Aber ich dachte wirklich, dass es keinen Sinn hatte, weiter in dieser Wunde zu stochern und damit womöglich noch das Leben von Dr. Janosch zu zerstören.
»Es ist meine Pflicht.«
»Es war auch Ihre Pflicht, mich anzuzeigen. Bitte, lassen Sie es. Denken Sie an Ihre Tochter.«
Ich legte auf und starrte auf das Guthaben meiner Karte. Noch vierzig Cent.
Franz war tatsächlich ermordet worden. Jetzt war es gewiss. Die ganze Zeit hatte ich es geahnt und befürchtet, und nun war es zur Gewissheit geworden, aber irgendwie beruhigte mich dieses Wissen in keiner Weise, im Gegenteil.
Ein riesig angelegtes Komplott radierte alle Menschen vom Erdboden, die ihnen auf irgendeine Weise zu nahe gekommen waren. Aus welchem Grund auch immer. Und ich war mit Sicherheit der Nächste, wenn ich sie nicht aufhielt.
Ich nahm die Karte heraus und stieg aus der Telefonzelle. Nicoles Worte klangen noch in meinem Ohr. »Ich liebe dich.« Das klang fast wie »Ich warte auf dich«, egal, was passiert und wie lange es dauern würde. Als würde sie damit rechnen, dass ich eines Tages wieder ein freier Mann wäre, als könnte ich den unbekannten Gegner tatsächlich besiegen. Das wäre wunderbar. Dann würde ich alles machen, was sie wollte, schwor ich mir. Eine Stelle in einem langweiligen Personalbüro annehmen, Hausmann sein oder sogar ihr persönlicher Sklave – alles. Ihre Hoffnung gab mir Mut. Indem sie es ausgesprochen hatte, wurde ihr Glaube an mich Wirklichkeit, existierten ihre Worte und formten ihre eigene Realität. Eine Realität, die mir Schutz und Kraft gab und die mich auf einmal wieder befreiter atmen ließ.
Ich kramte mein verbliebenes Geld aus der Tasche: sechs Cent. Zusammen mit dem Guthaben auf meiner Telefonkarte besaß ich also fast einen halben Euro. Ich wusste nicht, wie lange ich damit durchhalten würde.
Ich suchte mir wieder ein ruhiges Fleckchen in einem Park, legte mich auf die Wiese, dachte an Franz' Beerdigung, die in diesen Minuten stattfand, und wartete.
In der Hand hielt ich das Handy des toten, falschen Polizisten mit dem nicht existenten Namen Carl Meyer. Er gehörte dazu, und wenn Manuel, Grunevelds wirklicher Mörder, Mitteilungen über das Handy bekam, dass er im Postfach seine Anweisungen
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