Das sechste Opfer (German Edition)
Wichtigkeit, und als ich eine Schubkarre am Friedhofseingang fand, nahm ich die auch noch und schob sie vor mir her.
Auf das Friedhofsgelände ging ich dennoch nicht, das war mir zu riskant. Ich blieb außerhalb der Umzäunung und wartete auf die Trauernden. Meine Anwesenheit sollte weder masochistisch cool oder makaber sein,. Es war mir auch egal, wer kam und wer nicht. Ich wollte lediglich noch einmal die Menschen sehen, die mir wichtig waren, und mich still von ihnen verabschieden. Schließlich trafen sie auch einer nach dem anderen ein. Nicole, ihre Eltern, mein Vater mit Frau, meine Geschwister samt ihren Familien, ein paar Freunde und entfernte Bekannte. Und Dr. Janosch. Er betrat relativ zeitig den Friedhof und trat sofort an Nicole heran, um ihr sein Beileid auszusprechen. Dann stand er verloren in der Gegend herum und wartete, dass es losging.
Als schließlich alle da waren, gingen sie in die kleine Kapelle und blieben für etwa eine halbe Stunde darin verschwunden. Danach kamen sie heraus und folgten langsam einem Sarg, in dem die verbrannten Reste von Carl Meyer liegen mussten, zu einem ausgehobenen Grab.
Dort wurden noch einmal ein paar Worte gesprochen, bis der Sarg in der Erde verschwand.
Nicole hatte eine dicke Sonnenbrille auf, hinter der sie ihre Tränen verbarg, die sie mit einem Taschentuch immer wieder von ihren Wangen wischte. Sie sah umwerfend aus, trotz der gedrückten Körperhaltung. Das schwarze kurze Kleid betonte ihre gute Figur und die geraden Beine. Das Kleid hatte ich bei ihr noch nie gesehen, oder es war mir noch nie aufgefallen, aber heute wirkte es fantastisch.
Ich wusste nicht, ob Nicole Schuldgefühle empfand, weil sie mich verlassen hatte, oder sich im Angesicht meines Todes mit Vorwürfen quälte, weil wir im Streit auseinandergegangen waren. Ich jedenfalls spürte diese Art Schuld jetzt in diesem Moment. Und ich überlegte, ob ich ihr irgendwie eine Nachricht zukommen lassen sollte, dass ich in Wahrheit noch lebte.
Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto absurder kam mir der Gedanke vor. Wenn ich ihr eine anonyme Nachricht schreiben würde, würde sie es nicht ernst nehmen, und wenn sie eindeutig war, dann wäre sie in Gefahr. Und ich auch.
Ich konnte nichts anderes tun, als sie aus der Ferne anzusehen und ihr einen Luftkuss zuzuwerfen. Wir hatten uns verloren. Endgültig.
Neben ihr stand mein Vater, erstaunlich ruhig und gefasst, aber das wunderte mich nicht. Es passte zu ihm. Ich weiß nicht, was er wirklich über mich dachte und ob er wirklich glaubte, ich wäre ein gefährlicher Mörder gewesen. Er ließ sich einfach nicht in die Karten sehen. Dafür weinte seine Frau, die mich die meiste Zeit meiner Kindheit versorgt und aufgezogen hatte, umso heftiger. Sie schluchzte ohne Unterlass in Papiertaschentücher, die sie danach in ihre Hosentasche stopfte, aus der sie bald herausquollen. Daneben standen ruhig und gefasst meine Geschwister und betrachteten hin und wieder gelangweilt die Baumwipfel.
Dr. Janosch wirkte betroffen und ernst. Er war der Einzige, der wusste, was los war, der die Zusammenhänge kannte. Er fragte sich sicherlich, ob er mit seinem Wissen zu den Behörden gehen sollte, aber ich hoffte, er würde es nicht tun. Vielleicht ahnte er aber auch, dass mein Tod nicht echt war. Vielleicht hatte er die menschlichen Überreste sogar auf dem Seziertisch gehabt und festgestellt, dass sie von einem anderen stammten. Vielleicht, vielleicht. Ich würde es wahrscheinlich nie erfahren.
Der Rest der Trauernden interessierte mich weniger. Meine Freunde hatte ich das letzte Mal zu irgendeiner Geburtstagsparty gesehen, was mir inzwischen wie eine Ewigkeit her vorkam. Sie hatten keine Ahnung, was in den vergangenen Wochen alles so passiert war, und sie würden über meinen Verlust sicherlich gut hinweg kommen. Trotzdem sah ich einen nach dem anderen an und verabschiedete mich lautlos von ihm oder ihr.
Als mein Sarg dann in das Grab gelassen wurde, löste sich die Gruppe auf und verließ den Friedhof. Ich sah Nicole noch lange hinterher, selbst als sie schon längst hinter den Bäumen verschwunden war, bevor ich meinen Platz hinter dem Zaun verließ und die Schubkarre wieder an das Tor brachte.
Es war vorbei. Peter Mustermann war Geschichte.
In den nächsten Tagen war ich noch mit meinem Buch beschäftigt, schrieb die letzten Seiten und überarbeitete alles. Indem ich mich voll in das Schreiben kniete, vergaß ich den Schmerz und die Sehnsucht. Doch als ich damit fertig war,
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