Das sechste Opfer (German Edition)
hier vor Ihnen stehen kann und nicht auf Ihrem Seziertisch liege, so seltsam das auch klingen mag. Nicole ist nur sicher, wenn sie nichts weiß, weder von mir noch von den Zwergen. Sie würde mich suchen, sie wäre außerdem Mitwisserin und in Gefahr. Es ist besser so.«
Ich war inzwischen nüchtern geworden. Als ich mich selbst reden hörte, hatte ich das Gefühl, als würde ich von einer Person sprechen, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte. Eine verschollene Tante oder ein Studienfreund. Dabei ging es um Nicole, um den Menschen, der mir einmal am nächsten gestanden hatte. Kaum merklich hatte die Zeit bereits ihre Arbeit verrichtet und still und heimlich ein paar meiner Wunden geheilt, nicht nur die fleischlichen. Und Nicoles hoffentlich auch.
Dr. Janosch nickte. »Sie ist tapfer. Sie wird übrigens demnächst Ihre Wohnung ausräumen. Falls es Sie interessiert.«
Es interessierte mich. Er nannte mir noch den genauen Tag, dann verabschiedete ich mich von ihm, gab ihm eine E-Mail-Adresse, die ich eingerichtet hatte und mit der wir unauffällig in Kontakt bleiben konnten, und verließ das Büro.
Unsichtbar
Dr. Janosch war kein Mann, der Aufgaben auf die lange Bank schob. »Was weg ist, nervt nicht mehr« war sein liebster Spruch, genau wie »Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen«. Erst wenn alles erledigt war, konnte er es richtig genießen, mit einem Glas guten Rotweins vor der Stereoanlage zu sitzen und seine Lieblingssymphonie zu hören oder entspannt mit ein paar Freunden Skat zu spielen. Da rumorte keine übrig gebliebene Arbeit in seinem Hinterkopf, die ihm den Spaß verdarb. Deshalb nahm er sich – gleich nachdem dieser merkwürdige Kauz Peter Mustermann das Büro verlassen hatte – die Liste mit den Verlagen vor und begann sie abzutelefonieren.
Er hatte diesen Kerl inzwischen irgendwie ins Herz geschlossen, auch wenn er noch immer nicht wusste, was da wirklich im Gange war und weswegen Peter sich auf der Flucht befand. Aber er glaubte nicht, dass der einen Mann getötet hatte, wie es von allen Seiten behauptet wurde. Dafür war er viel zu naiv. Eine Eigenschaft, die Dr. Janosch normalerweise an erwachsenen Menschen verabscheute, aber gewisse Formen waren akzeptabel. Die Naivität gegenüber der menschlichen Rasse und den Glauben, dass der Mensch im Grunde seines Herzens gut sei, fand er tolerabel. Oder der Glaube an Gott, das war eine Art der Einfalt, mit der er ebenfalls etwas anfangen oder sie zumindest in gewisser Weise nachvollziehen konnte. Aber alles andere war indiskutabel: der Glaube an ein Schicksal oder an Happy Endings, an extraterrestrisches Leben oder dass einem im Leben auch nur die kleinste Kleinigkeit geschenkt wird.
Dr. Janosch glaubte an harte Arbeit, dass man selbst für alles verantwortlich war, was im Leben passierte, und dass der Mensch das größte Monster überhaupt war, das die Erde jemals hervorgebracht hatte. Er liebte seine Familie, insbesondere seine Tochter, und brachte ihr schon früh bei, dass es das Wichtigste war, an sich selbst zu glauben und die unqualifizierte Meinung anderer zu ignorieren. Seine Frau bezeichnete ihn oft als nüchtern und desillusioniert, aber mochte sie das ruhig. Das beleidigte ihn nicht, im Gegenteil. Er gab sich keinen Illusionen mehr hin, dafür hatte er in seinem Job schon viel zu viel gesehen und erlebt. Und er hatte es sich auch schon längst abgewöhnt, irgendetwas oder jemanden zu glorifizieren. Er war nüchtern und illusionsfrei, da gab es keinen Zweifel, und das war auch gut so.
Es gab allerdings Momente, in denen er noch einen winzigen Funken Glut in sich spürte. Ein Verlangen nach Idealen, nach einem Ziel, für dessen Erreichen er alles aufgeben würde. Ein Brennen nach einem Sinn, der seinem ganzen Mühen und Sein einen Grund geben würde. Eine Sehnsucht nach Leidenschaft. Aber diese Momente waren glücklicherweise sehr selten, denn gewöhnlich fühlte er sich danach leer und müde, als wäre er ein Greis, der sich in Anwesenheit seiner unzähligen Urenkel nach Ruhe und Frieden sehnt.
Doch jetzt, in diesem Augenblick, als Peter Mustermann den Raum verlassen hatte, spürte er wieder so etwas wie eine kleine Flamme Begeisterung in seinem Körper. Ein Kribbeln, das langsam von seinen Zehenspitzen immer höher wanderte. Das sein Herz eine Spur schneller schlagen ließ und ein Leuchten in seine Augen zauberte. Er rief einen Verlag nach der anderen an, wobei er immer routinierter wurde und immer interessantere Geschichten zur
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