Das sechste Opfer (German Edition)
nie mehr wiedersehen und in den Armen halten konnte. Meine Wohnung, die ich nie wieder würde betreten können. Mein Vater, der um seinen Sohn trauern musste, meine Frau, die nun Witwe war. All das drückte auf meine Seele. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste ein neues Leben anfangen, eine neue Identität aufbauen.
Am meisten beschäftigte mich der Gedanke an Nicole. Ich liebte sie, und auch wenn wir oft Streit gehabt hatten in letzter Zeit, so war sie doch meine Frau. Für sie würde mein Ableben ebenfalls eine Menge Veränderungen bedeuten.
Es war ein seltsamer Vorgang, mich damit abzufinden, dass alles, was ich war, was mich ausmachte, nun vergangen und vorbei sein sollte. Auf der einen Seite fühlte ich mich völlig einsam und entwurzelt, voller Furcht auf das, was mich erwarten würde. Auf der anderen Seite aber ergriff mich das unglaublich mächtige Gefühl der Freiheit. Ich konnte alles hinter mir lassen, konnte ein neuer Mensch werden. Es war wie eine Wiedergeburt.
Als ich am Morgen erwachte, schienen die dunklen Gedanken fast vollständig verschwunden. Ich fühlte mich stark und bereit, mein weiteres Vorgehen zu planen.
Dazu gehörte, dass ich zuerst meine Aufzeichnungen in Franz' Notebook änderte. Bisher hatte ich die aktuellen Ereignisse als Fakten dargestellt, hatte sie lediglich erklärt und erläutert. Und meine letzten Abenteuer waren noch gar nicht darin verewigt. Doch nun änderte ich meine Schreibweise.
Ich hatte mir ein Zimmer in einer kleinen, billigen Pension genommen, verband das Notebook mit dem Stromnetz und schrieb. Aber dieses Mal wurde es kein Artikel, sondern ein Roman. Um niemanden zu gefährden änderte ich alle Namen der Personen und gab mir selbst ebenfalls einen fiktiven Namen. Ich war Peter Mustermann, meine Frau nannte ich Nicole und mein bester Freund wurde zu Franz Geier. Ich schrieb und schrieb, Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Ich hatte heute meine Frau betrogen. In dieser Nacht hatte ich mich in den Strudel gestürzt und mich von ihm verschlucken lassen. Doch am Abgrund wartete nichts Süßes und Verführerisches auf mich, sondern das Ende meines Lebens. Dass dieses Ereignis mir alles nehmen würde, was ich besaß, daran dachte ich jedoch nicht. Wieso sollte ich auch? Arglos und gutgläubig hatte ich Clara vertraut.
Jetzt bin ich Peter Mustermann. Und diese Zeilen hier sind meine Lebensversicherung.
Das Buch würde alles aufdecken und die Menschen aufrütteln. Es würde endlich die ganze Wahrheit ans Licht bringen und mich rehabilitieren. Vielleicht würde es mich eines Tages sogar wieder zu einem freien Mann machen, aber soweit wagte ich noch nicht zu denken. Erst einmal musste ich es schreiben und veröffentlichen.
Als ich gerade die Situation beschrieb, in der ich mich befand, nachdem ich die Zwerge bei ihrem Gespräch belauscht hatte, verließ ich mein Zimmer, um etwas sehr Unangenehmes hinter mich zu bringen: meine eigene Beerdigung.
In der Zeitung hatte ich gelesen, dass meine Bestattung auf dem Friedhof in der Nähe meiner alten Wohnung stattfinden würde. Ich fragte mich, ob überhaupt jemand zur Totenfeier eines gesuchten Verbrechers kommen würde. Aber noch etwas anderes beschäftigte mich. In meinem Kopf saß noch der winzige Restzweifel, ob ich jetzt wirklich offiziell als tot galt, ob ich sie wirklich erfolgreich an der Nase herumgeführt hatte. Das ließ mich noch immer auf der Hut sein.
Es war noch früh am Morgen, als ich mich langsam auf den Weg zum Friedhof begab. Der Himmel war strahlend blau, ohne eine Wolke, völlig untypisch für eine dramatische Beerdigung. Ich hatte sie mir mit trübem und wolkigem Wetter vorgestellt, mit dunklen Mänteln und Regen, der ununterbrochen auf den Sarg trommelte. Aber es war alles anders. Die Vögel zwitscherten und der warme Frühlingswind rauschte durch die Bäume. Die Menschen außerhalb des Friedhofs trugen bunte, sommerliche Kleidung und lächelten mit der Sonne um die Wette.
Ich hatte mir einen blauen Overall gekauft und ihn eine halbe Stunde im Dreck gewälzt, bevor ich ihn anzog. Dazu zierte eine Baseballkappe, das dieselbe Prozedur mitmachen musste, meinen Kopf, auf dem das Haar inzwischen wieder kräftig wuchs. Eine Sonnenbrille, die direkt aus den 1970ern zu kommen schien, vervollständigte das Bild. Jetzt sah ich aus wie ein Bauarbeiter, der sich überall auf der Welt in der Nähe von Friedhöfen herumtreiben durfte, ohne Aufsehen zu erregen. Eine Schaufel in der Hand verlieh mir den Anschein von Nutzen und
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