Das sechste Opfer (German Edition)
Justizvollzugsanstalt. Ein gefährliches Pflaster für einen entflohenen Mordverdächtigen.
Also blieb ich lieber auf der gegenüberliegenden Seite, las eine Zeitschrift nach der anderen, um nicht zu sehr aufzufallen, trank noch mehr Eistee und wartete.
Als es Nachmittag wurde, verringerte sich der Besucherandrang im Strafgericht, bis er schließlich ganz versiegte. Die Tore des Gebäudes schlossen sich, und ich hatte Wozniak nicht gesehen.
Ich konnte mir plötzlich nicht mehr vorstellen, dass mein Plan funktionieren würde, den ich mir gestern im Wald ausgedacht hatte. Ich wollte Wozniak auflauern, ihm folgen, ihn zur Rede stellen und zu einem Geständnis zwingen. In meiner Hungerfantasie hatte das alles sehr gut geklappt und ich war danach als freier Mann wieder nach Hause zurückgekehrt, doch heute sah alles ganz anders aus. Er würde mich bestimmt erkennen, er hatte mir von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Und wahrscheinlich führte er ein wasserdichtes Doppelleben, das er durch ein Geständnis um keinen Preis gefährden würde. Vielleicht ließ er sich sogar bewachen, weil er sich denken konnte, dass ich ihn zur Rede stellen wollte.
Ich löste mich von meinem Platz neben dem Kiosk und schüttelte meine steifen Gliedmaßen. Und was war mit dem Hauptkommissar Bechthold? Steckte der mit in dem Komplott? Dann hatte er sich abgesichert.
Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.
Ich lief in Gedanken durch Moabit, bis ich meine Füße kaum noch spürte. Doch als die Dämmerung über die Stadt hereinbrach, hatte ich eine andere Idee. Aber dafür benötigte ich Hilfe.
Als ich bei Franz' Mutter klingelte, öffnete mir lange niemand die Tür. Aber ich konnte sehen, dass sie zu Hause war, denn in ihrer Wohnung im dritten Stock brannte Licht, deshalb gab ich nicht auf. Nach dem sechsten Klingeln ertönte endlich ihre müde Stimme in der Wechselsprechanlage. Ich meldete mich, und sofort summte der Türöffner.
Das Treppenhaus war schmal und eng, die Farbe blätterte von den Wänden, und durch die Fenster kam nicht mehr viel Tageslicht. Das Gebäude war alt, was man ihm auch ansah, aber die Wohnungen waren sehr schön.
Frau Geier sah genauso müde aus wie ihre Stimme geklungen hatte. Ihr Haar war unordentlich und ihre Strickjacke verkehrt geknöpft. Offenbar hatte sie gerade geschlafen, was mir der Anblick des zerwühlten Sofas auch bestätigte.
Wir setzten uns ins Wohnzimmer, das trotz leuchtender Stehlampe in der Dämmerung etwas düster, aber dafür sehr gemütlich erschien. Kein Radio, kein Fernseher lief, von der Straße drangen ein paar Geräusche herauf, und in der Nachbarwohnung übte jemand Tonleitern auf dem Klavier.
Ich entschuldigte mich für mein spätes Eindringen, aber sie winkte ab.
Als sie mir einen Kaffee machen wollte, bat ich sie um etwas ohne Koffein, da der Eistee, den ich den ganzen Tag getrunken hatte, immer noch in meinen Adern tobte und meinen Herzschlag unnötig beschleunigte.
Sie ging in die Küche, um einen Pfefferminztee zu kochen, während ich das Bad aufsuchte und mich ein wenig frisch machte. Ich wusste noch nicht, ob ich ihr die ganze Geschichte erzählen sollte. Als wir schließlich bei einer Tasse Tee im Wohnzimmer beisammen saßen, entschied ich mich für eine abgespeckte Version, und ich berichtete ihr von einem korrupten Staatsanwalt, der mir etwas anhängen wollte, was Franz bereits herausgefunden hatte, und von meinem Verdacht, dass er vielleicht doch nicht so einfach an einem Herzinfarkt gestorben war.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass ihr bei dieser Ansage die Kinnlade herunterklappte, aber sie sah mich nur mit todtraurigen Augen an und nickte.
»Ich habe immer befürchtet, dass mal so etwas passieren würde. Er hat sich immer mit solchem Abschaum abgegeben. Immer waren es diese Kriminalgeschichten, mit denen er zu tun hatte.«
Franz war Polizeireporter gewesen, meines Wissens gehörte dieser Job nicht zu den gefährlichen oder gesundheitsgefährdenden. Aber es hatte keinen Zweck, ihr das zu erklären.
»Ich brauche seinen Computer, Frau Geier. Vielleicht ist da noch etwas drauf, was mir weiterhilft.«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Computer ist leer, nichts drauf. Mein Neffe hat kann das bestätigen.«
Das hatte ich befürchtet. Wenn sie seine Akten verschwinden ließen, dann hatten sie sich auch an seiner Festplatte vergriffen.
»Können Sie mir den Computer trotzdem mitgeben? Ich brauche ihn, um daran zu arbeiten. Meiner zu Hause ist kaputt.«
»Natürlich.«
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