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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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einer Frau: Die Liebe vom Zigeuner stammt, fragt nicht nach Recht, Gesetz und Macht… so Stark, fast mächtig, daß Georg glaubte, die Stimme käme aus dem Radio, bis sie dann in der Höhe unvermutet knackste. Dieser Lärm wurde eher verstärkt als übertönt durch die Klänge desselben Marsches, den man vorhin in der Straße geblasen hatte, so daß Georg nun wieder meinte, er käme von außen, bis er sich klar wurde, daß er aus einem Radio im selben Flur gegen die Liesel Röder aufgespielt wurde. Georg erinnerte sich, daß die Liesel als Mädchen dann und wann aushilfsweise Choristin gewesen war. Paul hatte ihn manchmal auch mit auf die Galerie genommen, um die Liesel zu bewundern in dem zerfransten Rock einer Schmugglerin oder in dem Höschen eines Pagen. Liesel Röder war immer gewesen, was man ausgesprochen fidel nennt. Jene Kluft, die ihn plötzlich von Röder getrennt hatte, als er zu Franz gezogen war, jene unbeabsichtigte, aber verhängnisvolle Kluft, war ihm zuerst an Röders Frau, an Röders Heim bewußt geworden. Hinziehen zu Franz, das bedeutete nicht nur lernen, sich bestimmte Gedanken aneignen, an den Kämpfen teilnehmen, das bedeutete auch, sich anders halten, sich anders kleiden, andere Bilder aufhängen, andere Dinge schön finden. Konnte denn Paul immer diese watschlige Lisbeth aushaken, warum stellten sie all den Krimskrams auf? Warum sparten die zwei Jahre lang für ein Sofa? Georg langweilte sich bei Röders und ging weg. Bis ihn dann wieder Franz langweilte, bis ihm ihr Zimmer kahl vorkam. In einem solchen Durcheinander unausgegorener Gefühle, halbbewußter Gedanken, hatte sich Georg, der damals selbst noch ein Junge war, oft mit einem Ruck von seinen jeweiligen Freundschaften losgerissen. Das hatte ihn in den Ruf eines unberechenbaren Burschen gebracht. Er selbst hatte freilich gerechnet, man könnte eine Handlung mit der anderen ungültig machen, ein Gefühl mit dem entgegengesetzten Gefühl auslöschen.
     
    Georg hatte schon, während er horchte, den Daumen auf dem Klingelknopf. Nicht einmal in Westhofen war sein Heimweh so bitter gewesen. Er zog die Hand wieder zurück. Konnte er hier herein, wo man ihn vielleicht arglos aufnahm? Konnte ein Druck auf die Schelle diese Familie in alle Winde zerstreuen? Zuchthaus bringen, Zwangserziehung und Tod?
     
    Jetzt war in seinem Kopf eine stechende Helligkeit. Seine Erschöpfung war schuld, sagte er sich, daß er auf diesen Gedanken verfallen war. Hatte er nicht noch selbst vor einer halben Stunde damit gerechnet, daß er schon längst bespitzelt sei? Glaubte er wirklich, so einer wie er könnte so leicht seine Spitzel abschütteln?
     
    Er zuckte mit den Achseln. Er stieg ein paar Stufen herunter. In diesem Augenblick stieg jemand von der Straße herauf. Georg drehte sich gegen die Wand; er ließ den Mann, Paul Röder, an sich vorbeigehen. Er schleppte sich bis zum nächsten Treppenfenster, stützte sich und horchte. Aber Röder ging noch nicht hinein; er blieb auch stehen und horchte. Plötzlich kehrte sich Röder um und stieg wieder abwärts. Georg stieg ein paar Stufen tiefer. Röder legte sich übers Geländer und rief: »Georg!« Georg erwiderte nichts, er stieg tiefer. Aber Röder war mit zwei Sätzen in seinem Rücken, er rief: »Georg«, er packte ihn am Arm, »bist du’s oder bist du’s nicht?«
     
    Er lachte und schüttelte den Kopf. »Warst du schon bei uns? Hast du mich eben nicht erkannt? Ich hab mir gedacht: War das denn nicht der Georg? Du hast dich aber verändert –« Er war plötzlich gekränkt: »Drei Jahre hast du gebraucht, bis dir der Paul wieder in den Sinn kommt. No – jetzt komm mit.«
     
    Georg hatte zu all dem noch nichts gesagt, er folgte schweigend. Beide standen jetzt vor dem großen Treppenfenster. Röder sah Georg von unten herauf an. Was er dabei auch dachte, sein kleines Gesicht war allzu getüpfelt von Sommersprossen, um etwas Düsteres auszudrücken. Er sagte: »Grün siehst du aus. Bist du denn überhaupt noch der Georg?« Georg bewegte seinen trockenen Mund. »Du bist’s doch?« fragte Röder ganz ernsthaft. Georg lachte auf. »Komm, komm«, sagte Röder. »Ich wundere mich jetzt wirklich, wieso ich dich erkannt habe im Treppenhaus.« – »Ich war sehr lange krank«, sagte Georg ruhig. »Meine Hand ist noch nicht geheilt –« – »Wie, fehlen Finger?« – »Nein, Glück gehabt.« – »Wo ist denn das passiert? Warst du die ganze Zeit hier?« – »Ich war Fahrer in Kassel«, sagte Georg. Er

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