Das siebte Kreuz
in seine Schule gegangen, ihm fehlte jetzt nichts mehr als die Jacke, die wollte er gerne als Preis zahlen. Wie hatte er sich heute morgen in die Arbeit geworfen, in den Dienst, in die Kameradschaft! Den Gärtner Gültscher mied er. Wie hatte er sich bei dem Alten verquatschen können, bei diesem Pfeifenlutscher. Den ganzen Tag über war der Fritz wie der Fritz der vorigen Woche. Warum war er überhaupt unruhig gewesen! Was hatte er denn getan! Ein paar dahingestotterte Worte! Ein schwaches Nein! Sie hatten gar keine Folgen gehabt. Und was keine Folgen gehabt hat, ist’s nicht so gut wie ungeschehen? Er war der Munterste an diesem Buben tisch gewesen,
bis vor fünf Minuten. »Guckst du Löcher in die Luft, Fritz?« Er zuckte zusammen.
Wer ist das, der Zillich? Was hat er mit mir zu tun? Was kann ich mit einem Zillich gemein haben? Was hat er mit uns zu tun! Ist das wahr, was man von ihm erzählt?
Vielleicht ist’s wirklich nicht die richtige Jacke gewesen. Es gibt ja Menschen, die sich zum Verwechseln ähnlich sind, warum denn nicht auch mal Jacken – vielleicht sind wirklich jetzt alle Flüchtlinge eingefangen – auch meiner. Er hat die Jacke vielleicht als seine nicht anerkannt. Gehört dieser Zillich ganz genauso zu uns wie Albert, ist alles wahr, was man von ihm erzählt? Wozu brauchen wir ihn? Warum hat man meinen auch gefangen? Warum ist er denn geflohen? Warum ist er eingesperrt worden?
Er starrte auf das Warum, auf den braunen, mächtigen Rücken. Zillich trank jetzt sein fünftes Glas.
Auf einmal fuhr ein Motorrad vor das Wirtshaus. Ein SS-Mann rief in die Stube, ohne das linke Bein vom Sattel zu ziehen: »He – Zillich!« Zillich drehte sich langsam um. Er hatte das Gesicht eines Menschen, der zwischen seinem gewöhnlichen Zustand und der Trunkenheit hängengeblieben ist und weder da- noch dorthin findet. Fritz verfolgte den Vorgang genau, ohne zu wissen, auf was er so stark gespannt war. Seine Freunde hatten kurz hingesehen und, da es ja nichts mehr zu sehen gab, weiter beraten. »Setz dich auf«, sagte der zweite SA-Mann, »man sucht dich überall. Ich hab gewettet, daß du hier bist.«
Zillich ging etwas schwer, aber fest und aufrecht aus der Wirtsstube. Seine Angst war weg; denn auch ihm war es eine Genugtuung, gesucht und gebraucht zu werden. Er schwang sich hinten auf. Die beiden fuhren los.
Alles in allem hatte das Ganze keine drei Minuten gedauert. Fritz hatte sich schräg gesetzt, um die Abfahrt zu beobachten. Zillichs Gesicht hatte ihn erschreckt und der Blick, den die beiden Männer getauscht hatten. Ihm wurde kühl. In seinem jungen Herzen regte sich etwas, eine Warnung oder ein Zweifel, etwas, von dem die einen behaupten, es sei dem Menschen angeboren, und die anderen wieder behaupten, es sei ihnen nicht angeboren, sondern entstünde nur nach und nach, und wieder andere behaupten, so etwas gäbe es überhaupt nicht. Aber es regte sich in dem Jungen und zitterte weiter, solange er das Motorrad knattern hörte.
»Wozu braucht ihr mich?« – »Wegen dem Wallau. Bunsen hat ihn selbst noch mal verhört.«
Sie gingen in die Baracke, in der sich anfangs der Woche Fischer und Overkamp eingerichtet hatten. Vor der Tür stand SA und SS, ein erregter, lockerer Haufen. Bunsen, welcher offenbar die Nachfolge Overkamps antrat, rief nach jedem Stadium seines Verhörs ein paar Leute namentlich auf. Wenn er die Tür öffnete, spannten sie alle, wen er drin brauchte.
Als man den Wallau nach der Baracke gebracht hatte, war eine schwache Hoffnung in ihm erstanden, Overkamp möchte nicht abgereist sein, nur die unnütze Verhörerei begänne von neuem. Aber nur Bunsen war in der Baracke gewesen, und jener Uhlenhaut, der Zillichs Nachfolger werden sollte bei der Besonderen Kolonne. Und in Bunsens Gesicht stand geschrieben, daß das Ende gekommen war.
Jetzt fließen Wallaus Empfindungen alle in eine zusammen: in Durst. – Was für ein furchtbarer Durst! Nie mehr wird er ihn stillen können. Aller Schweiß ist aus ihm herausgebrochen. Er verdorrt. Was für ein Feuer! Rauch scheint aus allen Fugen zu quellen, alles verdampft, als wenn die Welt jetzt unterginge und nicht er allein – Wallau.
»Overkamp hast du nichts sagen wollen. Wir zwei werden uns besser verstehen. Heisler war dein Busenfreund. Er hat dir alles erzählt. Hopp – wie heißt seine Braut?«
Also, sie haben ihn immer noch nicht, dachte Wallau, noch ein letztes Mal seiner selbst
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