Das siebte Kreuz
Fallensteller benimmt sich anders, der schwatzt, der schmiert, der wickelt dich ein. So ähnlich wie der hätte sich auch ein Pelzer benommen in so ‘ner Lage. Dann dachte er wieder: Wenn’s doch ‘ne Falle ist, dann –. Sie fuhren in die Riederwaldsiedlung. Sie hielten in einer stillen Straße vor einem kleinen gelben Haus. Der Mann war ausgestiegen. Er sah ihn auch jetzt nicht an. Er winkte ihn nur mit der Schulter heraus und dann in den Flur und aus dem Flur in die Stube.
Das erste, was Georg jetzt wahrnahm, war ein starker Nelkengeruch. Auf dem Tisch stand ein großer weißer Strauß, der im Halbdunkel schimmerte. Die Stube war niedrig, aber ziemlich geräumig, so daß die Lampe in einer Ecke nur einen kleinen Teil erhellte. Aus dieser Ecke erhob sich jemand in einem blauen Kittel, halb Knabe, halb Mädchen, halb Frau, die Herrin dieses Hauses. Sie kam den beiden nicht eben freundlich entgegen, zumindest vorzeitig gestört beim Lesen des Buches, das sie hinter sich auf den Stuhl warf.
»Da ist ein Schulfreund von mir, er ist durchgefahren, ich habe ihn gleich mitgebracht, er kann doch heute wohl hier schlafen?«
Die Frau sagte völlig gleichgültig: »Warum nicht!« Georg gab ihr die Hand. Sie sahen sich kurz an. Der Mann stand starr und sah zu, ob sein Gast jetzt begänne, sich aus einem Traum in etwas Greifbares zu verwandeln. Die Frau sagte: »Sie wollen vielleicht zuerst in Ihr Zimmer?«
Georg warf einen Blick auf den Mann, der nickte unmerklich. Er sah ihn vielleicht sogar hinter seiner Brille zum erstenmal an. Die Frau ging voraus.
Kaum strömte ein wenig Sicherheit in ihn ein, keine Gewißheit, nur Hoffnung auf Sicherheit, da freute er sich an den bunten Matten auf der Treppe, an dem weißen Lack, an den hohen Beinen der Frau, an ihrem kurzgeschorenen, glatten Haar.
Ein Wunder, daß er in diesem Zimmer allein sein konnte und denken.
Als sie draußen war, schloß er ab. Er drehte an den Kranen, er roch an der Seife, er trank ein wenig Wasser. Er sah sich im Spiegel so völlig entfremdet, daß er vermied, noch einmal hineinzublicken.
Um diese Zeit betrat Fiedler die Wohnung seiner Schwiegereltern, in der ihm und seiner Frau ein Zimmer gehörte. Er hätte den Heisler wahrscheinlich bei sich aufgenommen, wenn er allein gelebt hätte. So war er auf den Doktor Kreß verfallen. Der hatte früher bei Pokorny gearbeitet und dann bei Cassella. Fiedler kannte ihn auch aus seiner Arbeiterabendschule. Dort hatte Kreß Chemie unterrichtet. Sie trafen sich öfters, und dann war es Kreß, der von dem Schüler lernte. Kreß war von Natur sehr ängstlich, er hatte aber im Jahre 3 3 tapfer zu dem gestanden, was er für richtig erkannt hatte. Dann aber hatte gerade Kreß die verhängnisvolle Antwort gegeben: »Lieber Fiedler, komm mir nicht mehr mit Sammellisten, komm mir nicht mehr mit verbotenen Zeitungen, für eine Broschüre will ich nicht mein Leben riskieren. Wenn du was hast, was sich lohnt, dann komm wieder.« – Vor nunmehr drei Stunden hat ihn Fiedler beim Wort genommen.
Endlich, dachte Frau Fiedler, als sie den Mann auf der Treppe hörte; obwohl sie nichts weniger gern tat als warten, war sie zu stolz, zu den anderen in die Küche zu gehen. In früheren Jahren hatten sie alle miteinander zu Abend gegessen. Nach einigen Mißhelligkeiten war man übereingekommen, die beiden Jungen abends allein zu lassen. Die Fiedlers waren eigentlich jetzt keine Jungen mehr. Sie waren schon über sechs Jahre verheiratet. Doch Fiedlers erging es, wie es gar vielen Menschen erging, seit dem Anbruch des Dritten Reiches. Nicht nur ihre äußeren Verhältnisse und Beziehungen waren undurchsichtig und halbgültig, ihr Zeitgefühl selbst war aufgelöst. Sie kamen sich in der Schwebe vor und wunderten sich aufs höchste, wenn wieder ein Jahr vorbei war.
Zuerst hatten Fiedlers keine Kinder gewollt, weil sie arbeitslos waren und außerdem glaubten, sie seien zu Unternehmungen anderer Art bestimmt als zur Aufzucht von Kindern. Jetzt – glaubten sie damals – müßten sie frei sein und ungebunden, um auf die Straße zu gehen, um für die Freiheit zu kämpfen, sobald sie gerufen würden. Jetzt – glaubten sie damals – waren sie noch überaus jung, so jung, daß sie später auch noch jung sein würden; denn dieses Jetzt war ihnen wie morgens erschienen und jenes Später wie abends. Und beides am gleichen, vielversprechenden Tag. – Im Dritten Reich hatten sie keine Kinder
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