Das siebte Kreuz
verrät, daß alles gleich nichts mehr gilt. Es gilt aber doch, dachte Georg. Der Fahrer kam zurück, ein robuster Mann, im dicken Gesicht schwarze Vogeläugelchen. »Komm rauf«, sagte er kurz.
Vor der Stadt war es schon Abend. Der Fahrer schimpfte auf den Nebel. »Was hast du in Mainz vor?« fragte er plötzlich. »Ins Krankenhaus«, sagte Georg. »In welches?« – »In mein altes.« – »Du scheinst ja gern Chloroform zu schnüffeln«, sagte der Fahrer. »Mich kriegst du mit zwanzig Gäulen in kein Spital. Im letzten Februar auf dem Glatteis –« Sie wären fast auf zwei Wagen aufgefahren, die hintereinander hielten. Der Fahrer bremste, fluchte. Die beiden vorderen Wagen bekamen gerade von der SS-Streife Erlaubnis, loszufahren. Die Streife kam an den Brauereiwagen. Der Fahrer zeigte seine Papiere herunter, dann hieß es: »Und Sie da?« Das Ganze war doch nicht so schlecht, dachte Georg, ich hab zwei Sachen falsch gemacht. Man kann es leider nicht vorher einüben. Er hatte genau dieselbe Empfindung wie damals bei seiner ersten Verhaftung, als plötzlich das Haus umstellt war – ein rasches Ordnen aller Gefühle, Gedanken, ein blitzschnelles Überbordwerfen allen Plunders, der reinlichste Abschied, und schließlich – er trug eine braune Jacke aus Manchestersamt, daran war kein Zweifel. Der Posten verglich seine Angaben. Es ist ein Wunder, wie viele Manchesterjacken man zwischen Worms und Mainz in drei Stunden aufbringen kann, hatte Kommissar Fischer gesagt, als Berger vorhin einen Samtjackigen einlieferte. Dieses Kleidungsstück scheint sich hier in der Bevölkerung einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen. Bis auf die Beschreibung der Kleider war der Steckbrief den Aufnahmepapieren in Westhofen Dezember 34 entnommen. Doch außer der Jacke, dachte der Posten, entsprach der Mann in nichts diesen Angaben. Er hätte sein Vater sein können, während der Richtige gleichaltrig mit ihm war, ein frischer Bursche mit glattem, frechem Gesicht, während der hier so eine glatte flache Fratze hatte mit dicker Nase und aufgeworfenem Mund. Er winkte ab »Heil Hitler!«
Sie fuhren schweigend ein paar Minuten auf achtzig Kilometer. Der Brauereifahrer bremste plötzlich zum zweitenmal auf leerer, offener Straße. »Steig ab«, befahl er. Georg wollte etwas erwidern. »Steig ab!« wiederholte der Fahrer drohend, sein dickes Gesicht verzerrte sich, da Georg noch zögerte. Er machte Anstalten, Georg mit Gewalt hinunterzuschmeißen. Georg sprang ab. Er streifte abermals seine Hand, er heulte leise auf. Er taumelte weiter, während das Licht seines Bierwagens absauste, alsbald vom Nebel verschluckt, der in den letzten Minuten gefallen war. In kürzeren Abständen sausten Wagen an ihm vorbei, er wagte keinen mehr anzurufen. Er wußte nicht, ob er noch Stunden gehen mußte, Stunden gegangen war. Er versuchte sich klarzumachen, wo er war zwischen Oppenheim und Mainz – er kam durch ein kleines Dorf mit hellen Fenstern. Er wagte nicht, nach dem Namen des Dorfes zu fragen. Zuweilen traf ihn der Blick irgendeines vorübergehenden, irgendeines zum Fenster hinausgelehnten Menschen, so hart auf dem Gesicht, daß er mit der Hand darüberwischte. Was hatte er denn für Schuhe gestohlen, daß sie ihn trugen und trugen, während er selbst den Wunsch und Willen verloren hatte, weiterzulaufen? Dann hörte er ein Gebimmel, ziemlich dicht vor sich. Ein Schienenstrang endete vor dem kleinen Platz, der ihm ein Dorfplatz zu sein schien. Er stand jetzt unter Menschen an der Endstation einer Elektrischen. Er zahlte dreißig Pfennig von seiner Mark. Der Wagen, zuerst nur mäßig besetzt, wurde nach der dritten Station bei einer Fabrik vollgestopft. Georg saß mit gesenkten Augen. Sah er niemand an, überließ er sich nur der Wärme, dem Gedränge all dieser Menschen, dann war er ruhig und beinahe geborgen.
Wenn ihn aber ein einzelner anstieß, ein einzelner mit seinem Blick streifte, wurde ihm kalt.
Er mußte an einer Station heraus, die Augustinerstraße hieß, er ging die Schienen entlang, tiefer in die Stadt. Er war plötzlich hellwach. Wäre die Hand nicht gewesen, er hätte sich leicht gefühlt. Das machte die Straße, die Menge, überhaupt die Stadt, die keinen ganz allein läßt oder allein zu lassen scheint. Irgendeine dieser tausend Türen hätte sich einem doch aufgetan, wenn man sie nur gefunden hätte. Er kaufte sich in einer Bäckerei zwei Brötchen. Dieses Geschwätz der alten und jungen Frauen um ihn herum über den
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