Das siebte Kreuz
Nebel so dicht und so flach, daß man meinen könnte, die Ebene sei hochgestiegen mit ihren großen und kleinen Lichtschwärmen und das Dorf Schmiedtheim liege statt auf dem Abhang am Rande der Ebene. Aus dem Nebel herauf schreien die Höchster Sirenen und die Eisenbahnzüge. Schichtwechsel. In den Dörfern und Städten richten die Frauen das Abendessen. Schon klingeln die ersten Fahrräder unten auf der Chaussee. Ernst steigt hinauf bis zum Straßengraben. Er stellt ein Bein vor, verschränkt die Arme auf der Brust. Er blickt hinunter, da wo die Straße beim Wirtshaus Traube ansteigt; um seinen Mund zuckt ein Lächeln von überlegenem Spott, das Gott und der Welt zu gelten scheint. Es macht ihm jeden Abend Spaß, daß alle dort unten absteigen und ihre Räder drücken müssen.
Nach zehn Minuten kommen die ersten an ihm vorbei, verschwitzt, grau, müde. »He, Hannes!« – »He, Ernst! Heil Hitler!« – »Heil du ihn! He, Paul!«
»He, Franz!« – »Keine Zeit, Ernst«, sagte Franz. Er schob sein Fahrrad über die Erdschwellen, über die er heute morgen so lustig gehuppelt war. Ernst drehte sich um und sah ihm nach. Was hat der Kerl denn, dachte Ernst, bestimmt ein Mädchen. Auf einmal war er sich klar darüber, daß er den Franz nicht besonders gut leiden konnte. Wozu, dachte er, braucht der ein Mädchen? Wenn einer eines braucht, bin ich es. Er klopfte an Mangolds Küchenfenster.
Franz ging sofort in Marnets Küche. »Grüß Gott!« – »Grüß Gott, Franz«, knurrte seine Tante. Suppe war schon ausgeschenkt, Kartoffelsuppe mit Würstchen. Zwei Würstchen auf jeden Mann, ein Würstchen auf jede Frau, ein halbes Würstchen auf jedes Kind. Die Männer waren: der alte Marnet, der älteste Sohn Marnet, der Schwiegersohn, der Franz; die Frauen waren: Frau Marnet, die Auguste. Die Kinder waren: das Hänschen und das Gustavchen. Es gab Milch für die Kinder und Bier für die Großen. Und Brot und Schlackwurst, weil die Suppe kurz war. Frau Marnet hatte im Krieg gelernt, sich ziemlich alles, was eine Familie brauchte, zu melken und zu schlachten zwischen allen möglichen Verordnungen und Verboten.
Die Teller und die Gläser, die Kleider und die Mienen, die Bildchen an den Wänden und die Worte auf den Lippen, alles verriet, daß die Marnets weder arm noch reich waren, weder städtisch noch bäurisch, weder fromm noch ungläubig.
»Und daß der Kleine nicht gleich seinen Urlaub bekommen hat, und man sieht, daß er nicht immer durch die Wand kann mit seinem Dickkopf«, sagte Frau Marnet von ihrem jüngsten Sohn, der drunten in Mainz bei den Hundertvierundvierzigern stand, »das ist gut für den Kerl.« Worauf bis auf Franz alle am Tisch zustimmten, daß der Kleine mal richtig gezwiebelt gehöre, überhaupt sei das ein Segen, daß alle diese Bengel mal wieder parieren lernten. »Heute ist doch Montag«, sagte Frau Marnet zu Franz, als der, kaum den Teller ausgeschluckt, wieder aufstand. Sie hatten gehofft, Franz würde helfen, die letzten Äpfel reinholen.
Sie brummelten noch, als er schon weg war. Aber viel war nicht gegen ihn zu sagen, denn er war immer anstellig gewesen und anständig bis auf die ewige Schachspielerei mit dem Hermann in Breilsheim. »Wenn er ein ordentliches Mädchen hätte«, sagte die Auguste, »dann tat er so was nicht.«
Franz setzte sich auf sein Rad und fuhr diesmal in entgegengesetzter Richtung auf dem Feldweg nach Breilsheim hinunter, das früher ein Dorf gewesen war, aber jetzt durch die neue Siedlung mit Griesheim zusammengewachsen. Seit seiner neuen Heirat wohnte Hermann in der Siedlung, auf die er als Eisenbahnarbeiter Vorberechtigung gehabt hatte. Er hatte überhaupt plötzlich auf eine Menge Sachen Berechtigung gehabt, allerlei Vergünstigungen, Teufelkommraus an Darlehnsmöglichkeiten, als er in diesem Frühjahr in zweiter Ehe die Else Marnet geheiratet hatte, eine ganz junge Kusine der Marnets. Seine war von den Schloßbornern, den hinteren Marnets, was sowohl ihre Lage im Taunus wie in dem großen, über zahlreiche Dörfer verteilten Familienband der Marnets bezeichnete. Hermann sagte auch, als er mit seinen Kameraden über alle die neuen Heiratsannehmlichkeiten sprach: »Ja, unsere Tante Marnet, die vordere Tante Marnet, wird uns auch noch ein silbernes Kuchenbesteck schenken. Sie ist nämlich die Patin von der Else. Da gab es zu jedem Namenstag ein silbernes Löffelchen.« – »Deiner Else wäre sicher das ganze Jahr durch das Schmalztöpfchen von
Weitere Kostenlose Bücher