Das siebte Kreuz
durch, quer über eine Ecke des Dachs, zog er noch eine Spur. Dann rollte er gegen das Gitter. Er nahm noch einmal alle Kraft zusammen. Er schwenkte über das niedrige Gitter ab, bevor sie ihn erwischen konnten.
Er war in einen Hotelhof gestürzt, so daß die Zuschauer schließlich abziehen mußten, ohne etwas erlebt zu haben. In den Mutmaßungen der Müßiggänger, in den aufgeregten Berichten der Frauen schwebte er immer noch stundenlang über die Dächer, halb Gespenst, halb Vogel. Als er im Krankenhaus gegen Mittag starb, denn er war nicht gleich tot gewesen, gab es auch hier ein Paar, das sich seinethalben beriet. »Sie haben nur den Totenschein auszustellen«, sagte der jüngere Arzt zum älteren, »was also gehen Sie die Füße an? Daran ist er doch nicht gestorben.« Ein schwaches Gefühl von Übelkeit überwindend, tat der Ältere, was ihm der Jüngere befohlen hatte.
5
Es war jetzt also halb elf. Die Küstersfrau befehligte eine Schar von Putzfrauen, nach einem festen, im Haushalt des Mainzer Doms genau bestimmten Plan. Nach diesem Plan war im Laufe eines Jahres der ganze Dom mal drangekommen. Den gewöhnlichen Putzfrauen waren allerdings nur bestimmte Gebiete unterstellt, Fliesen, Mauern, Treppen, Bänke. Die Küstersweiber selbst, Mutter und Frau, behandelten ganz allein mit ihren feineren Besen und komplizierten Putzwerkzeugen die Nationalheiligtümer des deutschen Volkes. Daher fand die Küstersfrau das Bündelchen hinter der Grabplatte eines Erzbischofs. Georg hätte es besser unter eine Bank geschoben. »Jetzt guck dir mal das an«, sagte die Frau zu dem Küster Dornberger, der gerade aus der Sakristei kam. Der Küster guckte sich den Fund an, machte sich seine Gedanken, fuhr die Frau an: »Mach, mach!« Dann ging er mit seinem Bündelchen durch einen Hof in das Diözesanmuseum. »Herr Pfarrer Seitz«, sagte er, »gucken Sie sich das mal an.« Der Pfarrer Seitz, ein Sechzigjähriger wie sein Küster, breitete das Bündelchen auf der Glasvitrine aus, in der auf einer Unterlage aus Samt eine Sammlung Taufkreuze numeriert und datiert lagen. Ein dreckiger Fetzen aus Drillich. Der Pfarrer Seitz hob seinen Kopf. Sie sahen einander in die Augen. »Warum bringen Sie mir eigentlich diesen Dreckfetzen, mein lieber Dornberger?« -»Meine Frau«, sagte der Küster ein bißchen langsam, damit der Pfarrer Seitz Zeit hatte, nachzudenken, »hat das eben hinter dem Bischof Siegfried von Epstein gefunden.« Der Pfarrer sah ihn ganz überrascht an. »Sagen Sie mal, Dornberger«, sagte er, »sind wir ein Fundbüro oder ein Diözesanmuseum?« Der Küster trat dicht an ihn heran. Er sagte leise: »Ob ich nicht doch zur Polizei damit muß?« – »Zur Polizei?« fragte der Pfarrer Seitz in hellem Erstaunen, »ja tragen Sie denn jeden wollnen Handschuh, den Sie unter einer Bank finden, zur Polizei?« Der Küster murmelte: »Heut morgen hat man da was erzählt –« »Erzählt, erzählt. Man erzählt Ihnen wohl noch nicht genug? Man soll vielleicht morgen erzählen, daß sich bei uns die Leute im Dom an- und ausziehen? Das stinkt aber mal. Wissen Sie, Dornberger, da kann man sich ja noch was holen. Das würde ich verbrennen. Das möchte ich nicht in meinem Küchenherd; ist ja eklig. Wissen Sie, das steck ich gleich hier rein.«
Ab ersten Oktober war das eiserne Öfchen geheizt. Dornberger stopfte das Zeug hinein. Er ging weg. Es stank nach verbrannten Lumpen. Der Pfarrer Seitz machte einen Fensterspalt auf. Aus seinem Gesicht ging die Lustigkeit weg, es wurde ernst, sogar finster. Schon wieder mal war was passiert, was sich ebenso leicht durch den Fensterspalt verflüchtigen wie zu einem furchtbaren Stunk verdichten konnte, an dem man womöglich noch hinterher erstickte.
Während sein Kittel, in dem er Blut geschwitzt hatte, zu einem schmalen Rauchfähnchen wurde, das dem Pfarrer Seitz viel zu langsam und viel zu stinkend durch seinen Fensterspalt entwich, hatte Georg zum Rhein hinuntergefunden, und er trottete jetzt auf dem sandigen Promenadenweg über der Fahrstraße rheinabwärts. Früher, als ein halber Junge, war er auf Fahrten manchmal in die Gegend gekommen. Von den Dörfern und Städtchen aus westlich von Mainz gab es unzählige Möglichkeiten, auf Booten und Fähren herüberzukommen. Wenn er darüber nachgedacht hatte, zumal nachts, war ihm das alles sinnlos erschienen, leere Hoffnung, von tausend Zufällen abhängig. Wenn er aber auf seinen zwei Beinen zwischen den Zufällen hin und
Weitere Kostenlose Bücher