Das siebte Kreuz
sich ein sicherer Weg aus dem Lande fand, oder in seinen frischen Kleidern, vielleicht schon sogar mit frischen Mitteln versahen, sich auf und davon gemacht hatte. Die Fahndung wurde verstärkt. Alle Wege, die aus der Stadt herausführten, Kreuzungen, Bahnhöfe, Brücken, Fähren wurden so scharf überwacht, als sei ein Krieg ausgebrochen. In den erneuten Steckbriefen wurde die Summe von je fünftausend Mark auf die Köpfe der Flüchtlinge ausgeschrieben.
Wie es Georg in der Nacht geahnt hatte, verwandelte sich seine Heimatstadt mit allen Menschen, die jemals in einem Zusammenhang mit seinem Leben gestanden hatten, jene Gemeinschaft, die jedes Dasein trägt und umgibt, aus Blutsverwandten und Liebschaften und Lehrern und Meistern und Freunden in ein System von lebenden Fallen. Es wurde enger und kunstvoller mit jeder Stunde Polizeiarbeit.
Dieses Bäumchen sei für den Heisler gewachsen, sagte Fahrenberg. Das Querbrett etwas tiefer. Er wird sich biegen müssen. Daß er sich am Wochenend ausruhen könne von seinen Strapazen, verrate ihm, Fahrenberg, seine innere Stimme. »Ihre innere Stimme«, sagte Overkamp. Er sah sich Fahrenberg an, wie er sich von Berufs wegen Leute ansah. Der Mann war ziemlich fertig.
Fahrenberg war sehr jung im Krieg notgetraut worden. Seine ältliche Frau und zwei fast erwachsene Töchter wohnten mit seinen eigenen Eltern zusammen in jenem Haus am Marktplatz, in dessen Erdgeschoß das Installationsgeschäft lag. Man wartete auf die Einheirat. Der ältere Bruder, der Installateur, war im Krieg gefallen. Er, Fahrenberg, hätte Juristerei ausstudieren sollen. Kriegsgewöhnung, die unruhige Zeit, hatten damals verhindert, daß er durch Fleiß ausfüllte, was sein Verstand nicht gerade spielend machte. Lieber als seinem alten Vater in Seeligenstadt Röhren legen helfen, wollte er Deutschland erneuern, mit seinem SA-Sturm kleine Städtchen erobern, vor allem das Heimatstädtchen, in dem er früher als Nichtsnutz gegolten hatte. In den Arbeitervierteln herumknallen, Juden verprügeln und dann schließlich alle düsteren Prophezeiungen seines Vaters und der Nachbarn Lügen strafen, indem man auf Urlaub nach Haus fuhr mit Achselstücken, Geld in der Tasche, mit Anhang, mit Macht.
Von allen Gespenstern, die Fahrenberg in den letzten drei Nächten heimgesucht hatten, war das gespenstigste: ein Doppelgänger Fahrenberg im blauen Installateurkittel, eine verstopfte Röhre ausblasend. Seine Augen brannten vor Schlaflosigkeit. Die letzte Meldung, die Auffindung des Pullovers, erschien ihm die Antwort auf alle Gebete der Nacht, ihm in der Not beizustehen, die Gefangenen zurückzuführen, ihn nicht mit der furchtbarsten aller Strafen heimzusuchen – dem Entzug von Macht.
Vor allen Dingen muß ich mich satt essen, sagte sich Georg, sonst mach ich’s nicht hundert Schritte mehr. Ein para Minuten von hier, da war doch ein Automat, da war doch dann auch die Haltestelle. Er spürte einen Stich in der Herzgrube. Er hatte fast die Empfindung, gestochen zu werden, vornüber zu kippen, ganz schwarz war die Luft. Das war ihm im Lager ein paarmal passiert nach sehr wilden Tagen. Er war hinterher sehr enttäuscht gewesen, weil es glatt vorbeigegangen war, als sei die Spitze nicht steckengeblieben, sondern durchgezogen worden. Jetzt war er zornig. Er hatte sich sein Zugrundegehen anders vorgestellt, sich wehren wollen, Menschen zusammenbrüllen.
Wozu? fragte er sich. Er ging schon wieder auf beiden Füßen. Er schüttelte seinen Mantel auf, der feucht und zerknittert war. Er überquerte den Obermainteil. Auch das wäre lustig gewesen, tot hinterm Gitter zu liegen, dieweil man die Stadt nach ihm absuchte.
Wie jung die Stadt plötzlich war, wie still und rein. Sie schälte sich aus dem Nebel heraus, besprenkelt mit zartestem Licht, und nicht nur die Bäume und Rasen, die Brük-ken und Häuser, das Pflaster selbst war morgenfrisch. Er überlegte sich kalt und klar, daß es immerhin seinen Wert in sich trug, aus dem Lager entsprungen zu sein, wie auch der Abschluß sein mochte. Vielleicht ist Wallau schon aus dem Land, dachte er, Belloni sicher. Er scheint ja hier seinen Anhang gehabt zu haben. Was habe ich falsch gemacht, daß ich steckengeblieben bin? Die äußeren Straßen waren noch leer gewesen. Hinter dem Schauspielhaus fängt das Leben schon an, als wäre es Tag von der inneren Stadt her. Als Georg in das Büfett eintrat und Kaffee und Suppen roch und hinter Glas Brot und
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