Das siebte Kreuz
Schalen mit Essen sah, vergaß er vor Hunger und Durst Furcht und Hoffnung. Er wechselte bei der Kassiererin eine Mark von Bellonis Geld. Mit quälender Langsamkeit drehte sich das belegte Brot der Öffnung zu. Warten müssen, bis sich die Tasse unter dem dünnen Fädlein Kaffee füllte, für die, die warten können.
Das Büfett war ziemlich voll. Zwei junge Burschen mit den Mützen der Gesellschaft hatten sich ihre Tassen und Teller an einen der Tische getragen, an denen ihre Werkzeugtaschen lehnten. Sie aßen, schwatzten, bis plötzlich der eine abbrach. Er merkte nicht, daß ihn sein Freund verwundert betrachtete und sich dann umsah, wohin der andere blickte.
Georg war inzwischen satt geworden. Er verließ das Büfett, ohne nach rechts oder links zu sehen. Dabei streifte er jenen Burschen, der eben bei seinem Anblick zusammengezuckt war. »Hast du denn den gekannt?« fragte der andere. »Fritz«, sagte der erste, »du kennst ihn ja auch. Hast ihn früher gekannt.« Der andere sah ihn unsicher an. »Das war sicher Georg«, fuhr der erste fort, ganz offen, außer sich. »Ja, der Heisler, ja, der Geflüchtete.« Da sagte der andere mit einem halben Lächeln, mit einem schrägen Blick: »Gott! Du hättest dir was verdienen können.« »Hält ich? Hättest du?«
Plötzlich sahen sie sich in die Augen mit dem furchtbaren Blick, der Taubstummen eigen ist oder sehr klugen Tieren, allen jenen Geschöpfen, deren Vernunft auf Lebenszeit eingesperrt ist und unmittelbar. Dann blitzte in den Augen des einen auf, was ihm die Zunge löste. »Nein«, sagte er, »auch ich hätte es nicht getan.« Sie packten ihre Taschen zusammen, früher waren sie ganz gute Freunde gewesen, dann kamen die Jahre, in denen sie nichts Vernünftiges mehr miteinander sprachen aus Angst sich einander auszuliefern, falls sich der andere verändert hatte. Jetzt hatte sich herausgestellt, daß sie beide die alten geblieben waren. Sie verließen das Büfett in Freundschaft.
3
Elli war Tag und Nacht überwacht, seit sie entlassen worden war, zu dem Zweck, für ihren früheren Mann zum Verhängnis zu werden, falls er noch in der Stadt war und Anschluß an seine alte Familie suchte. Gestern abend war sie im Kino keinen Augenblick unbewacht geblieben. Ihre Haustür war über die ganze Nacht beobachtet. Dichter hätte das Netz nicht sein können, das über ihren hübschen Kopf geworfen war. Aber auch das dichteste Netz, sagt ein Sprichwort, besteht hauptsächlich aus Löchern. Elli war zwar beobachtet worden, wie sie sich in der Pause in ein Gespräch mit dem Platznachbarn einließ, aber sie war unterwegs und im Kino selbst einem halben Dutzend Bekannten begegnet, einer hatte sie schließlich am Ausgang abgepaßt, um sie heimzubegleiten. Hatte sich als ein harmloser Wirtssohn herausgestellt.
Marnets wunderten sich, als Franz in der Frühe sich anbot, Apfelkörbe, Kusine und Tante vor der Schicht in die Markthalle zu fahren. Das war ein Umschwung in seinen jüngsten Gepflogenheiten.
Franz war sogar schon am Aufladen, als man herunterkam. »Kaffee kannst du ruhig noch trinken«, sagte Anna besänftigt. Als man auf dem klapprigen Wagen bergab fuhr, waren noch Mond und Sterne am Himmel.
In seiner Kammer, in der der Äpfelgeruch hängengeblieben war, obwohl die Äpfel schon seit gestern verpackt waren, hatte sich Franz die ganze Nacht den Kopf zerbrochen. Ware ich an Georgs Stelle, falls er wirklich hier ist, an wen könnte ich mich dann wenden? Ebenso, wie die Polizei aus all ihren Akten und Kartotheken, aus all ihren Protokollen ihr Wissen über das frühere Leben des Flüchtlings, ihr Netz über die Stadt legte mit immer dichteren Maschen, ebenso legte auch Franz ein Netz, das von Stunde zu Stunde dichter wurde, weil aus seinem Gedächtnis alle Menschen auftauchten, von denen er wußte, daß Georg einmal mit ihnen verbunden gewesen war. Manche waren darunter, die nie auf einem Anmeldeformular, nie auf irgendeinem Aktenbogen ihre Spuren hinterlassen hatten. Es brauchte ein Wissen anderer Art, um sie aufzustöbern. Einige gab es gewiß auch darunter, die auch bei der Polizei vorkamen. Wenn er nur nicht zu Brand geht, dachte Franz, der soll vor vier Jahren hier gearbeitet haben. Nur nicht zu Schumacher. Er würde ihn vielleicht sogar anzeigen. - Zu wem sonst? Zu der dicken Kassiererin, mit der er ihn auf der Bank sitzen sah, als es aus war mit Elli? Zu dem Lehrer Stegreif, den er manchmal besucht hat? Zu dem kleinen
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