Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
zu bekämpfen, der sich hartnäckig bei ihm eingenistet hatte.
Sie zuckte die Schultern. »Auf irgendeine Weise fühlte ich mich Erskryn wohl noch verbunden. Immerhin hat er mich damals aufgezogen, nachdem meine Eltern getötet wurden.«
»Was ist geschehen?«
Das Mädchen schaute weiterhin zu den Anij-o-doré empor. Tenan glaubte schon, sie würde nicht antworten oder hätteseine Frage nicht gehört. Ihr Gesicht wirkte im Licht der Nacht zeitlos und entrückt.
»Ich weiß nicht viel über die Ereignisse«, sagte sie schließlich. »Meine Ziehmutter hat mir das Wenige erzählt, was sie in Erfahrung bringen konnte.«
Tenan blickte sie neugierig an. »Ich wünschte, ich hätte eine Vergangenheit, an der ich andere Menschen teilhaben lassen könnte. Aber dem ist nicht so. Ich würde gern etwas über die deine hören.«
»Ich kann auch nicht viel berichten. Meine Mutter Miriel lebte in Caran, einer kleinen Inselgruppe weit im Westen Algarads. Sie hatte sich in Aedhon, einen Dan-Ritter, verliebt, der eine kleine Einheit von Kriegern anführte, um in Caran den Frieden zu sichern. Immer wieder gab es Grenzstreitigkeiten zwischen den Fürsten der Inseln und Kämpfe mit Räuber banden, die dort ihr Unwesen trieben. Aedhons Bruder war Erskryn, schon damals ein wilder Ritter und streitsüchtiger Soldat. Auch er hatte sich in Miriel verliebt, aber ihre Zuneigung galt von Anfang an nur Aedhon. Bald heirateten Miriel und Aedhon, und wenig später erblickte ich das Licht der Welt. Erskryn akzeptierte dies, wenn auch schweren Herzens. Währenddessen fanden die Grenzkonflikte keine Ruhe. Oftmals mussten Aedhon und Erskryn mit ihren Männern einschreiten, um Raub und Mord zu verhindern. Dann, ein halbes Jahr später, geschah das Schreckliche: Mein Vater wurde abberufen, um einen neuen Streit zu schlichten. Meine Mutter, die eine gute Schwertkämpferin war, begleitete ihn, während ich im Schloss bei meiner Amme zurückblieb. Ich war noch zu klein, um zu reisen. Vielleicht war es mein Glück, wer kann das sagen? Der Trupp wurde unterwegs angegriffen. Mein Vater fand den Tod, meine Mutter wurdeschwerverletzt zurück ins Schloss gebracht. Als sie von Aedhons Tod erfuhr, versank sie in Trübsal, nichts konnte ihr den Lebenswillen wiedergeben. Bald darauf starb sie an gebrochenem Herzen.«
Eilenna hielt inne und starrte auf den See hinaus, der von einem leichten Wind gekräuselt wurde, bevor sie mit leiser Stimme weitersprach. »Vor ihrem Tod nahm Miriel Erskryn das Versprechen ab, für mich zu sorgen. So kam es, dass ich bei ihm und seinen Piraten aufwuchs.«
Tenan runzelte die Stirn. »Und wie wurde er zu einem Seeräuber?«
»Es waren der Hass und die Wut, die ihn dazu trieben«, sagte Eilenna tonlos. »Er verlangte nach Rache für Miriels Tod und begann mit seinen Kriegern einen grausamen Feldzug gegen die Banden, die er dafür verantwortlich machte. Bald darauf wurde er unehrenhaft aus der Armee entlassen, stahl ein Schiff und errichtete seinen Stützpunkt auf den Kerr-Inseln. Seitdem lebt er dort mit seinen Männern und wurde selbst zu einem Geächteten und Gejagten.«
Eilenna hing für einen Moment ihren Gedanken nach. »Erskryn sagte oft, dass ich ihn an meine Mutter erinnere. Vielleicht war das der Grund, warum er mich manchmal so schlecht behandelte. Ich war die lebendige Erinnerung daran, dass sein Bruder Miriels Liebe errungen hatte und nicht er.«
»Kaum zu glauben, dass Erskryn einmal zur Liebe fähig war«, murmelte Tenan.
»Es ist tatsächlich schon lange her. Seit den Geschehnissen in Caran ist sein Herz kalt und grausam geworden.«
Tenan schaute zu Boden. »Mein Meister Osyn hat mir immer eingeschärft, dass aus Liebe nur Gutes entstehen kann.«
»Wer kann das schon mit Bestimmtheit sagen? Ich jedenfallskann an Erskryn nichts mehr erkennen, das mir gut und liebenswert erscheint. Er ist ein gemeiner Pirat geworden, selbstsüchtig und rücksichtslos. Und größenwahnsinnig. Irgendwann, so sagte er einmal, wolle er die Herrschaft über das Narnen-Meer und darüber hinaus erlangen.«
»Das wird er nie schaffen«, meinte Tenan kopfschüttelnd. »Seine Flotte ist viel zu klein und unbedeutend, um die Schiffe des Hochkönigs zu vernichten.«
»Unterschätze nie, wie weit er gehen könnte«, entgegnete Eilenna. »In seinem Zorn würde er sich sogar mit Achest verbünden, wenn es seinen Zielen diente.«
Tenan versank in Gedanken. Als er sich Eilenna wieder zuwenden wollte, sah er, dass der Platz neben ihm leer
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