Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
Alles war ihm so klein und beschränkt vorgekommen, doch auf einmal war es seltsam wertvoll, wie kleine Perlen der Erinnerung, die er in sich trug. Seltsam, dachte er, ich war die ganze Zeit darauf versessen, von Gondun wegzukommen, und nun fällt mir der Abschied schwer. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er seine Heimat nie wieder so sehen würde, wie er sie gekannt hatte.
Er versuchte, die düsteren Gedanken abzuschütteln, und wandte sich zum Bug. Vor ihm lag die weite See mit ihrer Freiheit, den ungeahnten Möglichkeiten – aber auch den unvorhersehbaren Gefahren. Fröstelnd hüllte er sich tiefer in seinen Umhang.
»Es wird ein schöner Tag werden«, sagte Harrid neben ihm. »Genau so lieben es die Seeleute: eine kräftige Brise im Nacken und strahlender Sonnenschein. Eta ist uns wohlgesonnen.«
»Wie lange werden wir für die Überfahrt benötigen?«, wollte Tenan wissen.
Harrid wiegte den Kopf. »Wenn die Wetterlage so bleibt, etwa vier Wochen. Aber ich kann nichts versprechen. Die Winde sind unberechenbar, und auf dem Narnen-Meer zieht schnell ein Sturm auf. Es kann vorkommen, dass du tagsüber keine Wolke am Himmel siehst, und plötzlich ballt sich ein gewaltiges Unwetter aus dem Nichts zusammen. Dann kannst du beweisen, ob du ein guter Seefahrer bist.« Er ließ den Blick zufrieden nach achtern schweifen. »Anscheinend sind wir nicht die Ersten, die den Wind ausnutzen.« Er überschattete die Augen mit der Hand und zeigte nach Osten auf eine Linie von Segeln, die sich schwarz gegen die aufgehende Sonne vom Horizont abhoben. »Wahrscheinlich Frachter aus den Ostländern, vielleicht aus Odo-Kan, jenseits der Todesinsel. Unglaublich, was für riesige Kähne in letzter Zeit gebaut werden. Die Reeder bieten größeren Frachtraum zu billigeren Preisen an und machen uns freien Kapitänen das Leben schwer. Wen wundert’s, dass da jeder versucht, andere Einnahmequellen zu finden.«
Tenan folgte seinem Blick. Er betrachtete fasziniert die drei Kolosse, die sich wie gigantische Schatten der Küste Gonduns näherten. In Lagath hatte er schon viele große Frachter gesehen, aber diese drei übertrafen in ihren Dimensionen alle anderen. »Ein Wunder, dass sie überhaupt über Wasser fahren können«, murmelte er.
»Wenn du die Naturgesetze kennst, ist alles möglich, mein Junge«, sagte Harrid.
Plötzlich weiteten sich seine Augen, und seine Züge erstarrten. »Moment mal! Das sind keine Frachtschiffe aus dem Osten«, sagte er tonlos. »Belgon steh uns bei! Das sind Dronth-Brecher!«
Tenan schaute ihn verständnislos an. »Dronth-Brecher? Davon habe ich noch nie gehört.«
Harrid erbleichte. »Bete darum, mein Junge, dass du nie in die Nähe von einem kommst!«
Er wandte sich um und brüllte seinen Männern Befehle zu.
23
Admiral Drynn Dur hatte eine weitere schlaflose Nacht verbracht. Die Planung der nächsten Angriffszüge wollte gut durchdacht sein. Er stand, die Arme auf einen ausladenden Tisch gestützt, in der Mitte seiner Kabine und brütete über den Karten, die Gonduns Küsten und Landstriche zeigten. Die Mission, die er zu erfüllen hatte, war bis jetzt ein wahres Desaster gewesen, zumindest, was die Suche nach dem Kristall anging. Zwar hatten die Gredows Lagath und alle Dörfer bis zur westlichen Seite Gonduns zerstört, doch nirgendwo hatten die Truppen Hinweise auf den Stein gefunden. Auch von dem Menschen, der ihn angeblich entdeckt hatte, fehlte jede Spur. Vor einer Stunde erst hatte Drynn Dur die Meldung erhalten, dass sich etwas Unerklärliches ereignet hatte. Ein kleines Dorf im Norden der Insel war von seinen Soldaten in Brand gesteckt worden, aber sie hatten keine Einwohner vorgefunden. Diese hatten anscheinend von dem bevorstehenden Angriff der Gredow-Krieger erfahren und waren geflohen.
Das gab Drynn Dur schwer zu denken. Bisher war die Taktik der Gredows erfolgreich gewesen, sich unbemerkt an den Feind heranzupirschen und anzugreifen, bevor sie bemerkt wurden. Doch diesmal hatte jemand die Bewohner vorgewarnt. Noch nie zuvor war so etwas geschehen! Drynn Dur musste davon ausgehen, dass auch die übrigen Dörfer Gonduns in Alarmbereitschaft versetzt worden waren. Doch von wem? Womöglich war selbst der Hafen von Dorlin zur Verteidigung bereit?
Er spreizte die Finger, seine Lederhandschuhe knirschten. Er musste jetzt schnell handeln und die ganze Insel dem Erdboden gleichmachen. Außerdem würde er eine Seeblockade anordnen, die verhinderte, dass Schiffe die Insel verlassen konnten.
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