Das Siegel der Macht
Striche. »Ein schmaler Gang führt vom Abthaus zum Schlafsaal der Mönche in der Klausur.«
»Und?«
»Wir wollen ihn umgekehrt begehen. Der Plan ist mindestens hundert Jahre alt. Die unteren Mauern scheinen den Sarazenensturm überlebt zu haben. Vielleicht gibt es die geheimen Gänge noch.«
Bruder Benedikt streifte seine äußere Kukulle ab und reichte sie Alexius. Zum zweiten Mal während dieser Italienfahrt verkleidete sich der Missus als Mönch. Nebeneinander schlichen sie durch den Klostergarten in die Klausur und betraten den Saal. Die Mönche schliefen tief. Benedikt und Alexius tasteten sich zum Ende des Schlafraums vor, wo keine Nachtlager standen. Glücklicherweise brannte in den Schlafräumen immer ein Öllicht. An der im Plan eingezeichneten Stelle entdeckten sie eine schmale, in die Mauer eingelassene Steinplatte. Alexius half Benedikt, sie geräuschlos wegzustemmen.
»Geht allein!«, flüsterte der Klosterbruder. »Wenn wir beide in den Gang steigen, kann niemand die Steinplatte an ihren Platz zurückschieben. Wir würden rasch entdeckt.«
»Um diese Zeit?«
»Es gibt immer Mönche, die plötzlich erwachen.«
»Weshalb geht nicht Ihr?«
»Seid Ihr nicht neugierig, was die Äbte einander so spät in der Nacht zu sagen haben?« Benedikt drückte dem Missus eine brennende Kerze in die Hand.
Statt einer Antwort schlüpfte Alexius in die Öffnung. Benedikt wartete, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war. Dann schob er die Platte zu Dreivierteln wieder davor und legte sich auf sein Nachtlager.
Die Kerze flammte stärker auf, als Alexius das Ende des Ganges erreichte. Er schob sich an der Mauerbiegung entlang voran und kam in ein anderes Gebäude. Plötzlich hörte er von weitem Stimmen. Behutsam schlich er vorwärts, bis es nicht mehr weiterging. Da! Durch schmale Ritzen bemerkte Alexius einen Lichtschein. Offenbar bildete auch hier eine schlecht aufgesetzte Steinplatte den Abschluss des Ganges. Der Grieche schob die Hand an der nur zwei Finger breiten Tafel vorbei und bekam Stoff zu fassen. Ein Vorhang ohne Fenster? Plötzlich begriff er. Dort, wo Klostervorsteher in früheren Zeiten in den Gang geglitten waren, um ihre Mönche zu belauschen, stand jetzt die Schlafstätte Abt Hugos. Die mit Tüchern bespannte Kopfseite des Bettes versteckte die Öffnung und verschaffte Alexius eine ausgezeichnete Deckung. Er legte sein rechtes Ohr an den hellen Spalt und hörte aufmerksam zu.
»… wird uns den Frieden auf Erden bringen. Seid Ihr in der Tiefe Eures Herzens von der Idee überzeugt?« Odilo von Cluny!
»Ja, es ist der einzige Weg, um das Böse von der Macht fern zu halten«, antwortete die gedämpfte Stimme des Abtes von Farfa.
»Dann bringt das steinerne Mal an, unten links am Torbogen neben dem Eingang. Lasst es nachts mit einem Meißel einschlagen. So fein, dass es nur vom Suchenden entdeckt wird.«
»Gilt dies für alle Abteien?«
»Ja, auch für Pavia, Peterlingen, Einsiedeln, Cluny und Fleury. Und andere, auch kleinere Klöster. Das Mal soll den Brüdern Mut geben weiterzumachen.«
»Wissen auch Weltgeistliche davon?«
»Fast niemand.«
»Was ist mit dem Missus des Kaisers?«
»Er reist zufällig in meinem Gefolge. Aber ich muss Abstand halten. Ein Schüler Gerberts wirft bekanntlich mit Platon- und Vergilzitaten um sich. Das möchte ich meinen braven Mönchen ersparen.«
Alexius schmunzelte vor sich hin, als er im dunklen Gang zurückging. Bruder Benedikt wartete im Schlafsaal der Mönche auf ihn und schob die Steinplatte wieder zur Seite. Lautlos dankte der Missus und kehrte ins Gästehaus zurück.
Vor dem Einschlafen fand Alexius keinen Ausweg aus seinem Gedankenwirrwarr. Ein neues Rätsel gesellte sich zu den bisherigen. Was steckte hinter dem steinernen Mal?
25
Seine erste Reise im Gefolge eines Abtes war für Alexius eine wohltuende Ruhepause. Meist ritt er mit seinen bewaffneten Männern an der Spitze des Reisezuges. Er hatte alle genau überprüft und Gerold angewiesen, laufend die Gesichter in den eigenen Reihen zu kontrollieren.
Tagsüber gab es wenig Kontakte mit den Mönchen und Priestern. Auch in den klösterlichen Gästehäusern an der Reiseroute war er meist allein. Alexius fühlte sich oft in Stimmung zu lesen oder Briefe zu schreiben. So lange Pergamentstücke hatte er noch nie mit Tinte voll gekratzt. Er wandte sich auch an Elana und wollte sein Schreiben Gerold anvertrauen. Der Diener weigerte sich aber, Alexius zu verlassen. So wurde ein anderer Bote
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