Das Siegel der Macht
früher als erwartet aus dem Schlaf. Mitten in der Nacht hörte er von weitem gedämpfte Geräusche. Es tönte wie das Schlagen oder Hämmern auf Stein. Sofort war er hellwach, tastete nach seinen Kleidern. Im Dunkeln näherte er sich dem Eingang des Klosters. Das Tor stand offen, der Pförtner war nicht da.
Der Missus fand ihn auf der Außenseite beim Betrachten eines Steinmetzes. Der Pförtner hielt ein Licht in der Hand, das die linke Seite des Torbogens beleuchtete. Dessen unterster Steinblock war halb von einem Busch verdeckt. Am Boden kniete ein Handwerker, der mit dem Rücken den Strauch von der Mauer wegdrückte. Knapp über dem Boden setzte er den Meißel an und versetzte immer wieder die Spitze des Werkzeugs. Nach jedem Schlag eine unmerkliche Drehung.
»Geht wieder schlafen, es ist noch nicht Matutin«, flüsterte der Pförtner Alexius erschrocken zu.
»Eurer Lärm hat mich geweckt. Was tut Ihr? Entsteht etwa mitten in der Nacht ein Kunstwerk?« Interessiert beugte Alexius sich vor.
»Ihr müsst ins Gästehaus gehen«, insistierte der Mönch.
Alexius zog sich entschuldigend zurück. In der einen Minute hatte er genug gesehen. Er war befriedigt und gleichzeitig beunruhigt. Genau wie er geahnt hatte: Das Zeichen der Wanderpriester und das steinerne Mal stimmten überein! Der Steinmetz war dabei, eine handflächengroße, ringförmige Linie in den Torbogen zu schlagen. Einen Halbkreis verschlungen in den anderen:
Seinen letzten Tag in Cluny verbrachte Alexius in schmerzlicher Spannung. Er ging zwischen den Gebetsstunden im Garten auf und ab und stellte sich hundertmal dieselben Fragen. Was hatten das Mal in Cluny und das Zeichen der Wanderpriester für einen gemeinsamen Sinn? Er kam zu keinem Resultat und meldete sich nach der Vesper in der Klausur, um sich von Odilo zu verabschieden.
»Geht Ihr weiter nach Fleury?«, fragte der Abt. Er empfing den kaiserlichen Missus im Scriptorium, war seit dem Morgen dabei, Bettelbriefe zu diktieren. Auch mächtige Klöster waren auf Getreidespenden der Weltlichen angewiesen.
»Nein, ich kehre über Peterlingen nach Pavia zurück.«
»Aus welchem Grund habt Ihr überhaupt die lange Reise hierher unternommen?« Täuschte Alexius sich, oder schwang in Odilos Stimme eine Spur von Misstrauen mit? Jedenfalls eine gute Portion Neugierde.
»Um Euch das Geleit zu geben.«
»Sehr nobel von Papst und Kaiser«, kommentierte Odilo. Er wollte sich den Mönchen am Schreibpult zuwenden, als Alexius sich mutig vorwagte.
»Ich habe Euer neues Zeichen unten am Klosterportal gesehen. Zwei verschlungene Halbkreise.« Der Missus gab seinen Worten einen beiläufigen Ton. Nur keine Fragen stellen. Gespannt schwieg er und wartete Odilos Reaktion ab.
»Ja, ein Kennzeichen für die Pilger. Wir wollen es in allen benachbarten Filialklöstern anbringen.« Odilo zuckte mit den kräftigen Achseln. »Ihr wisst ja, dass wir hier besondere Regeln haben. Reisende Mönche, Pilger und auch die Weltlichen müssen irgendwie informiert werden.«
»Cluny ist überall ein Begriff«, sagte Alexius. »Braucht das Kloster wirklich ein Kennzeichen?«
Das unmerkliche Zögern Odilos irritierte den kaiserlichen Boten. Sofort fasste der Abt sich und sagte fest: »Im Frühling hat Papst Gregor Cluny und zahlreichen zugehörigen Klöstern die Unabhängigkeit bestätigt. Wir sind stolz darauf und möchten sie betonen. Deshalb wird an allen Portalen das gleiche Zeichen angebracht.«
»Weshalb wird es dann nicht gut sichtbar, sondern hinter einem Busch eingemeißelt?«
Odilo zuckte mit den Augenbrauen. »Ach so, der Strauch. Der wird bald wegkommen, dann sieht man das ganze Portal.« Der Abt nickte Alexius zu und reichte ihm die Hand. Dieser kniete nieder und berührte Odilos Fingerring mit den Lippen. Das Gespräch war beendet.
Ungelöst blieb das Rätsel um Cluny. Er hat mir nur die halbe Wahrheit gesagt, überlegte Alexius viel später in seinem Bett. Der Schlaf wollte und wollte nicht kommen. Rund um ihn schnarchten sieben weitere Gäste. Einer, wohl als Pilger oder Büßer unterwegs, stöhnte ununterbrochen. Weshalb sprach Odilo nur von den benachbarten Filialklöstern Clunys? Aber kein Wort von Farfa, Pavia, Einsiedeln? Obwohl diese Abteien gleichfalls das steinerne Mal eingemeißelt bekommen sollten. Und was hatten die Wanderpriester mit dem gleichen Zeichen zu schaffen? Gerbert, dachte Alexius vor dem Eindösen. Gerbert wird weiterwissen.
27
Elana beugte sich konzentriert über das Pergament und
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