Das Siegel der Macht
gesetzt.« Der Einwand tönte wenig überzeugt.
»Und wer hat ihn verstümmeln lassen? Der Papst und der Kaiser, wer sonst?« Gerbert griff mit der Hand in einen Busch und brach einen Zweig ab, zerriss ihn in viele Stücklein.
»Weshalb wollt Ihr meine Ruhe stören, wenn Ihr meine Meinung teilt?«, ertönte eine heisere Stimme hinter ihnen.
»Nilus.« Bewegt kniete Gerbert nieder, berührte mit seinen Lippen die Hände, die Füße des lebenden Heiligen. Auch Alexius warf sich zu Boden. Der Prälat hob den Kopf. »Ich bin als Botschafter des Kaisers gekommen.«
»Den redegewandtesten Gelehrten hat der Kaiser aufgeboten«, krächzte der Greis. Leicht wie eine Feder wirkte er in seinem dünnen Umhang. Das hagere Gesicht war fast so weiß wie sein Vollbart. »Gerbert, den frisch ernannten Erzbischof von Ravenna persönlich! Sagt, was Ihr zu sagen habt. Aber Ihr werdet mich nicht überzeugen.«
Gerbert kam sich mit seiner ganzen Weisheit verloren vor. Wie argumentieren, da er selbst auf der Seite des Gerechten stand? Er schwieg und dachte an den Einzug des Eremiten in Rom …
Sofort nach der Gefangennahme Johannes Philagathos’ war Nilus von Serperi nach Rom geeilt, um Kaiser und Papst für den Abgesetzten gnädig zu stimmen. Feierlich wurde er im Lateran empfangen, musste sich zwischen Otto und Gregor setzen, die seine Hände küssten. Nilus lehnte die Ehrerweisungen ab. Er kam als Bittsteller, wollte den entweihten Papst zu gemeinsamen Bußübungen in seine Einsiedelei mitnehmen. Umgekehrt versuchte der Kaiser den Heiligen in Rom zu behalten und bot ihm die Leitung eines stadtrömischen Klosters an. Nilus ging auf die Bedingungen ein und erwartete die Auslieferung des entweihten Papstes im Kloster Sankt Anastasio.
»Jetzt hat der Kaiser unsere Abmachung verraten«, sagte Nilus enttäuscht zu Gerbert. »Johannes Philagathos ist öffentlich gedemütigt worden. Ich reise noch heute ab.«
»Otto leidet an seiner Entscheidung. Er ist jung, verletzlich. Bitte verzeiht ihm. Der Kaiser möchte, dass Ihr in Rom bleibt.«
»Zu spät.«
»Was soll ich ihm sagen?«, fragte Gerbert.
»Der junge Kaiser wird in seinem Innersten von einem urchristlichen, asketischen Geist getrieben. Er strebt aber auch Macht nach altrömischem Muster an. Diese Gegensätze lassen sich nicht zusammenzwingen. Der wahre Christ muss vergeben können, Gerbert. Otto und Papst Gregor haben es nicht getan. Nun wird auch der himmlische Vater ihre Sünden nicht verzeihen.« Nilus machte eine Pause, sammelte sich. Aber der Asket konnte sich nicht beherrschen. Geballte, in der Unendlichkeit von 99 Jahren aufgestaute Aggression gegen das Böse im Mitmenschen machte sich Luft. »Ich verfluche Papst Gregor und den Kaiser!« Nilus wandte sich ab, die Unterredung war beendet.
Schweigend führten Gerbert und Alexius ihre Pferde aus dem Klosterhof auf die Straße. Nur langsam verebbte der schmerzhafte Schock, den Nilus’ Worte in ihnen ausgelöst hatten.
Wenigstens mussten sie sich nicht um ihre Sicherheit sorgen. Zwei bewaffnete Soldaten ritten rechts und links von ihnen, der Rest der zwölf Mann starken Eskorte blieb dicht dahinter. Sicher war sicher. Gerbert sorgte dafür, dass Alexius nie ohne Bewachung ausging. Die Mitteilungen des Klosterbruders aus Farfa hatten ihn alarmiert. Wenn der Gesandte eines deutschen Feudalherrn an jenem folgenschweren Gespräch auf der Reichenau teilgenommen hatte, weshalb nicht einer der Herzöge, Markgrafen oder Grafen des gegenwärtigen kaiserlichen Gefolges? Ja, in Rom war Alexius genauso bedroht wie damals in Peterlingen.
Nach der Basilika von Sankt Paul bestiegen Gerbert und Alexius ihre Reittiere. Als die kolossalen antiken Thermen neben dem Caelius-Hügel sichtbar wurden, gingen sie wieder zu Fuß. Es war bereits dunkel.
»Was werdet Ihr dem Kaiser berichten?«, fragte Alexius leise.
»Dass er irgendwann zu Nilus pilgern muss. Nichts weiter. Otto darf niemals erfahren, dass der Eremit ihn verflucht hat. Das würde den Kaiser in noch tiefere Gewissenskämpfe stürzen.« Gerbert suchte die Augen des jungen Freundes, sah flackernde Unsicherheit darin. »Du musst dir nicht auch noch diese Sorgen aufbürden, Alexius. Gegen die Worte des Eremiten sind wir machtlos. Er ist ein Heiliger.«
Schweigend gingen sie weiter.
»Etwas ganz anderes!«, sagte Gerbert unvermittelt, während sie neben dem Circus maximus zum Aventin emporstiegen. Auf dem gegenüberliegenden Palatinhügel schimmerten die römischen Palastruinen im
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