Das Sigma-Protokoll
gern mal unterhalten.« Um herauszufinden, was da wirklich vor sich geht.
»Die Kinder, die ins Sanatorium eingeladen werden, haben in der Regel nicht mehr lange zu leben«, sagte sie ernst. »So viel ich weiß, lebt keines mehr. Aber Sie könnten sich ja mit den Eltern in Verbindung setzen. Der eine oder andere wird Ihnen gern mehr über Dr. Lenz’ Großzügigkeit erzählen.«
Der Mann wohnte im zwölften Wiener Gemeindebezirk, im dritten Stock eines trostlosen Mietshauses ohne Lift. Die Wohnung war klein und dunkel und stank nach abgestandenem Zigarettenrauch und kaltem Bratfett.
Nachdem ihr geliebter Sohn im Alter von elf Jahren gestorben war, erzählte der Mann, hätten sich er und seine Frau scheiden lassen. Die Krankheit und der Tod ihres Sohnes Christoph hätten auch die Ehe zerstört. Auf einem Tischchen neben dem Sofa stand unübersehbar ein großes gerahmtes Porträtfoto des Sohnes. Ob er acht oder achtzig Jahre alt war, konnte man nicht sagen: ein großer, völlig kahler Schädel und ein kleines Gesicht mit fliehendem Kinn und hervorquellenden Augen. Es war der runzelige Kopf eines steinalten Mannes.
»Mein Sohn ist im Sanatorium gestorben«, sagte der Mann. Er hatte einen grauen Vollbart, die Glatze säumte ein schütterer Haarkranz, und die tränennassen Augen blickten durch die Gläser einer Bifokalbrille. »Wenigstens hatte er am Ende seines Lebens noch ein paar schöne Tage. Dr. Lenz ist ein sehr großzügiger Mensch. Ich bin ihm sehr dankbar.«
»Haben Sie Christoph mal besucht im Sanatorium?«, fragte Ben.
»Nein. Eltern haben keinen Zutritt. Im Schloss dürfen sich nur Kinder aufhalten. Um die medizinische Versorgung kümmert sich ein erstklassiges Ärzteteam. Aber er hat Postkarten geschrieben.« Der Mann stand auf und kam wenig später mit einer Ansichtskarte zurück. Die große Schrift war die eines Kindes. Ben drehte die Karte um und sah das Farbfoto eines Alpengipfels. In der linken unteren Ecke stand das Wort SEMMERING.
Lenz’ Witwe hatte Semmering erwähnt.
Strasser hatte von Gerhard Lenz’ Forschungsklinik in den österreichischen Alpen gesprochen.
Handelte es sich um ein und denselben Ort?
Semmering.
Er musste Anna unbedingt von dieser Neuigkeit erzählen. Sofort.
Ben hob den Blick und sah, dass der Mann weinte. Als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, sagte er erneut: »Ich tröste mich damit, dass Christoph wenigstens noch ein paar schöne Tage erleben durfte.«
Sie hatten ausgemacht, dass sie sich spätestens um sieben Uhr abends wieder im Hotel treffen würden.
Wenn sie es bis dahin nicht schaffen sollte, hatte Anna gesagt, würde sie anrufen. Für den Fall, dass sie aus irgendeinem Grund nicht anrufen könnte, hatten sie einen Ersatztreffpunkt ausgemacht: neun Uhr im Prater, im Schweizerhaus.
Um acht war Anna noch nicht im Hotel und hatte auch keine Nachricht hinterlassen.
Sie war jetzt schon fast den ganzen Tag weg. Selbst wenn Lenz sie empfangen hatte, dachte Ben, konnte die Unterredung kaum länger als ein oder zwei Stunden gedauert haben. Aber etzt waren schon zwölf Stunden vergangen, seit sie sich heute Morgen getrennt hatten.
Zwölf Stunden.
Allmählich machte er sich Sorgen.
Als sie sich um halb neun immer noch nicht gemeldet hatte, machte er sich auf den Weg zum Schweizerhaus. Er war jetzt
nicht mehr nur nervös, er hatte Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte, und fragte sich, ob er vielleicht überreagiere. Schließlich war sie ihm nicht über jede Minute ihrer Zeit Rechenschaft schuldig. Und trotzdem...
Im Schweizerhaus herrschte Hochbetrieb. Das Lokal war berühmt für seine gebratenen Schweinshaxen mit Senf und Meerrettich. Ben setzte sich an einen Zweiertisch und bestellte ein Budweiser.
Er wartete.
Das Bier hatte heute keine beruhigende Wirkung. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um Anna und darum, was ihr zugestoßen sein könnte.
Um zehn war sie immer noch nicht aufgetaucht. Er rief im Hotel an: Nein, sie sei noch nicht zurückgekommen und sie habe auch nicht angerufen. Immer wieder kontrollierte er, ob sein Handy eingeschaltet war.
Er bestellte sich etwas zu essen, hatte aber schon keinen Appetit mehr, als das Essen schließlich kam.
Um Mitternacht fuhr er ins Hotel zurück. Er versuchte zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Angezogen lag er auf dem Bett und döste vor sich hin.
Die raue Stimme von Georges Chardin: ... ein kompliziertes Räderwerk... Dann Strassers Stimme: eine Verschwörung innerhalb
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