Das Sigma-Protokoll
daran interessiert gewesen sein sollte, so fürchte ich, dass es jetzt zu spät ist.«
Zu spät.
Nach einer kurzen Pause sagte die Sekretärin: »Sie sind doch sicher über die Sammelnummer Ihrer Botschaft erreichbar.«
Ben hängte ein.
41. KAPITEL
Die österreichischen Alpen
Der Zug nach Semmering rollte kurz nach neun aus dem Wiener Südbahnhof. Ben hatte das Hotel verlassen, ohne auszuchecken.
Er trug Jeans, Turnschuhe und seinen wärmsten Skiparka. Die neunzig Kilometer würde er im Zug wesentlich schneller schaffen als mit einem Mietwagen über die Serpentinen der Alpen.
Der Zug fuhr durch dicht besiedeltes Gebiet, glitt durch lange Tunnel und hangelte sich an steilen Gebirgspässen entlang. Vor der Kulisse stahlgrauer Berghänge rollte er durch hügelige grüne Felder und Wiesen, vorbei an weißen Häusern mit roten Dächern. Er kletterte langsam bergauf, kroch über schmale Viadukte und schlüpfte durch atemberaubende Kalksteinschluchten.
Die meiste Zeit saß Ben allein in seinem Abteil; die Sitzpolster waren in einem hässlichen Orange gehalten. Er dachte an Anna Navarro. Sie war in Gefahr. Das spürte er.
Freiwillig wäre sie nicht einfach so verschwunden. Da war er ganz sicher, so gut kannte er sie inzwischen. Entweder hatte sie überstürzt an einen Ort fahren müssen, von wo sie sich nicht melden konnte, oder man hatte sie mit Gewalt verschleppt.
Aber wohin?
Im Hotel in Wien hatten sie sich lange über Lenz unterhalten. Ben erinnerte sich daran, was Gerhard Lenz’ Witwe in der Aufregung gesagt hatte: Warum schickt Lenz Sie her? Warum machen Sie den weiten Weg von Semmering nach Buenos Aires? Und Strasser hatte erzählt, dass er Elektronenmikroskope an eine alte Klinik in den österreichischen Alpen geschickt habe, die auch unter dem Namen >Uhrwerk< bekannt wäre.
Doch was passierte in Semmering, das der alten Witwe so
Angst machte? Offensichtlich etwas, das immer noch im Gange war, etwas, das mit der Mordserie in Verbindung stand.
Anna war besessen davon, diese Klinik ausfindig zu machen. Sie war überzeugt davon, dass sie dort auf Antworten stoßen würde.
Was zumindest die Möglichkeit nicht ausschloss, dass sie sich auf die Suche danach gemacht hatte. Und wenn er daneben getippt hatte und sie nicht dort war, dann hoffte er zumindest darauf, dass sie sich in der Nähe befand.
Er studierte die Landkarte der Region Semmering-Rax-Schneeberg, die er vor seiner Abfahrt im Südbahnhof gekauft hatte, und versuchte sich einen Plan zurechtzulegen. Da er allerdings keine Ahnung hatte, wo genau sich die Klinik oder das Forschungslabor befanden, brach er das Vorhaben gleich wieder ab.
Der Bahnhof Semmering war ein schlichter zweistöckiger Bau, vor dem lediglich eine grüne Bank und ein Cola-Automat standen. Als er aus dem Zug stieg, schlug ihm ein eisiger Wind ins Gesicht. Der Klimaunterschied zwischen Wien und den nur knapp hundert Kilometer weiter südlich gelegenen Bergen war beträchtlich. Es war empfindlich kalt. Eine steile, kurvige Straße führte hinauf in den Ort. Schon nach ein paar Minuten brannten seine Ohren und Wangen vor Kälte.
Was mache ich, wenn ich Anna nicht finde? Oder wenn sie gar nicht hier ist? Was dann?
Semmering war winzig. Es lag an der Südflanke eines Berges und bestand aus einer einzigen Straße, der Hochstraße, an der sich Gasthäuser und Pensionen aufreihten. Oberhalb des Orts schmiegten sich einige luxuriöse Sporthotels und Sanatorien an den Hang. Im Norden konnte man das von der Schwarza in den Stein gefressene Höllental erkennen.
Mitten im Ort befand sich ein kleines Fremdenverkehrsbüro, in dem eine unscheinbare junge Frau auf Touristen wartete.
Ben fragte sie nach einer Wanderkarte für die Gegend um Semmering. Die Frau, die offensichtlich nicht sonderlich viel zu tun hatte, gab ihm die Karte und erläuterte ihm obendrein ausführlich mehrere besonders reizvolle Touren. »Da ist zum Beispiel der Weg entlang der historischen Bahnstrecke. Da haben Sie einen traumhaften Blick auf den Eingang zum Weinzettelwand-Tunnel.
Eine andere herrliche Stelle ist die, wo man das Motiv für den alten Zwanzig-Schilling-Schein gefunden hat. Und von hier haben sie einen wunderbaren Blick auf die Ruinen von Burg Klamm.«
»Sehr schön, vielen Dank für die Tipps.« Ben spielte den Interessierten und fragte beiläufig: »Gibt es hier in der Gegend nicht eine berühmte Privatklinik? In einem alten Schloss? Ich glaube, die ist auch unter dem Namen Uhrwerk
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