Das Sigma-Protokoll
zweigeschossige graue Holzgebäude hatte ein Giebeldach und verschwand fast völlig zwischen dichten Bäumen. Das Grundstück war von einem Gitterzaun umgeben.
Hinter den Spitzenvorhängen eines nach vorn gehenden Fensters konnte sie das Flackern eines Fernsehers erkennen. Anscheinend
sah Robert Mailhots Witwe fern. Anna stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und betrachtete das Haus.
Sie fragte sich, ob da drüben wirklich die Witwe vor dem Fernseher saß. In welchem Gemütszustand war sie? Trauerte sie noch? Um das festzustellen, musste sie näher an das Haus heran. Wenn sie sich im Schatten der Bäume versteckte, könnte sie vielleicht etwas entdecken und war zudem den Blicken neugieriger Nachbarn entzogen.
Die Straße lag verlassen da. Aus einem Haus hörte man Musik, in einem anderen lief der Fernseher. In der Ferne brummte ein Nebelhorn. Anna ging über die Straße.
Plötzlich flammte aus dem Nichts ein Paar greller Scheinwerfer auf. Ein Wagen raste auf sie zu. Das Licht blendete sie, wurde größer, kam näher. Anna stürzte Richtung Straßenrand, versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Der Wagen musste mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf sie zugeglitten sein, ganz langsam, sodass sie keine Motorgeräusche gehört hatte. Und dann, wenige Meter von ihr entfernt, hatte der Fahrer aufgeblendet und Gas gegeben.
Und jetzt jagte er auf sie zu. Es gab keinen Zweifel: Das war kein Auto, das nur viel zu schnell fuhr, der Fahrer hatte es auf sie abgesehen. Es war nur noch wenige Meter entfernt. Die quietschenden Reifen, der heulende Motor... Anna erkannte den vertikalen Kühlergrill eines Lincoln Town Car, seine flachen rechteckigen Scheinwerfer. Er sah aus wie ein Raubtier, wie ein Hai auf Beutezug.
Beweg dich!
Kreischend, zu Tode erschreckt, nur den Bruchteil einer Sekunde vom Tod entfernt, sprang sie in die Buchsbaumhecke, die Robert Mailhots Nachbargrundstück umgab. Die harten, stacheligen Zweige rissen am Stoff ihrer Jogginghose, bevor sie auf der anderen Seite auf den Rasen stürzte.
Sie hörte, wie das Auto an der Hecke entlangschrappte, wie Dreck unter durchdrehenden Reifen aufspritzte, wie Gummi quietschte, als der Wagen wieder auf den Asphalt schlitterte. Das Licht verblasste, die Motorengeräusche verstummten. Der Wagen war weg.
Was war passiert?
Sie rappelte sich auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie zitterte am ganzen Körper. Das Adrenalin pumpte durch ihren Körper. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Was zum Teufel geht hier vor?
Das Auto hatte genau auf sie zugehalten, hatte sie absichtlich überfahren wollen. Und dann war es einfach wieder verschwunden.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie Menschen, die verstohlen zwischen Vorhängen hindurchlugten. Wenn sie merkten, dass Anna sie sah, verschwanden die Gesichter blitzschnell.
Falls der Fahrer des Wagens sie hatte töten wollen, warum hatte er seinen Job nicht zu Ende gebracht? Warum war er so plötzlich verschwunden?
Das ergab alles keinen Sinn.
Keuchend und hustend, machte sie sich auf den Weg zum Hotel. Sie war tropfnass geschwitzt. Immer noch zitterte sie vor Angst, während sie versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Sie konnte sich den bizarren Vorfall einfach nicht erklären.
Hatte jemand versucht sie umzubringen?
Und wenn ja - warum?
War sie vielleicht nur einem Volltrunkenen, der mit einem gestohlenen Wagen auf Spritztour war, in die Quere geraten? Dafür hatte sich das Auto zu zielstrebig, zu kontrolliert bewegt.
Die einzig logischen Schlüsse verlangten ein gerüttelt Maß an Paranoia. Und sie weigerte sich standhaft, in diese Richtung zu denken. Das wäre der pure Wahnsinn. Sie dachte an Bartletts nebulöse Andeutungen über jahrzehntealte, unter äußerster Geheimhaltung ausgeheckte Pläne; an alte Männer, die Geheimnisse zu hüten hatten; an mächtige Leute, die um jeden Preis ihren Ruf retten wollten. Aber Bartlett war nach eigener Einschätzung ein Mann, der inmitten von Bergen vergilbten Papiers in einem Büro saß, der sich von der Realität weit entfernt hatte, der in einer Umgebung arbeitete, die Verschwörungstheorien nur allzu leicht Vorschub leistete.
Und dennoch: War es nicht möglich, dass man ihr Angst einjagen wollte, damit sie die Finger von dem Fall ließ?
Wenn ja, dann hatten sie sich die falsche Methode ausgesucht.
Denn dieser Vorfall bewirkte nur, dass Anna umso entschlossener war, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
London
Das Pub The Albion lag am
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