Das Silmarillion
gebunden in Hoffnung oder Schmerz. Wer von uns soll daher den andren beneiden?«
Und die Númenórer erwiderten: »Wie könnten wir nicht die Valar beneiden oder selbst den Geringsten unter den Unsterblichen? Denn von uns wird blindes Vertrauen verlangt, Hoffnung ohne Gewissheit, und wir wissen nicht, was uns erwartet, schon in kurzer Zeit. Und doch lieben auch wir die Erde und mögen sie nicht verlassen.«
Da sagten die Boten: »Zwar sind Ilúvatars Absichten, euch betreffend, den Valar unbekannt, und nicht alles hat er verraten, was noch sein wird. Dies aber halten wir für wahr:Eure Heimat ist nicht hier, weder im Lande Aman noch irgendwo in den Kreisen der Welt. Und das Schicksal der Menschen, scheiden zu müssen, war zu Anfang eine Gabe Ilúvatars. Leid wurde es ihnen nur, weil sie unter Morgoths Schatten fielen, und da schien es ihnen, als wären sie von einer großen Dunkelheit umgeben, vor der sie sich fürchteten; und manche wurden eigensinnig und stolz und wollten das Leben nicht lassen, bis sie hingerafft wurden. Wir, die wir eine Last von Jahren zu tragen haben, die immer noch schwerer wird, können dies nicht gut verstehen. Wenn aber, wie ihr sagt, dieses Leid euch nun wieder quält, so fürchten wir, dass der Schatten sich abermals erhebt und wächst in euren Herzen. Deshalb, auch wenn ihr die Dúnedain seid, die edelsten unter den Menschen, die einst vor dem Schatten geflohen sind und tapfer gegen ihn gekämpft haben, sagen wir: Hütet euch! Erus Wille kennt keinen Widerspruch, und die Valar gebieten euch ernstlich, das Vertrauen nicht zu verweigern, das ihr ihnen schuldet, damit dies nicht bald wieder zu einer Kette werde, die euch drückt. Hoffet vielmehr, dass am Ende auch die geringsten unter euren Wünschen Frucht tragen werden. Die Liebe zu Arda hat Ilúvatar euch ins Herz gepflanzt, und nichts pflanzt er ohne Absicht. Dennoch, vieler Ungeborener Leben mag noch hingehen, ehe diese Absicht bekannt wird; und euch wird sie enthüllt werden, nicht den Valar.«
Dies geschah in den Tagen Tar-Ciryatans des Schiffbauers und seines Sohnes Tar-Atanamir; beide waren stolze Menschen, begierig nach Reichtum, lieber nehmend als gebend, und den Menschen von Mittelerde legten sie nun Tribut auf. Zu Tar-Atanamir waren die Boten gekommen, dem dreizehnten König. Mehr als zweitausend Jahre hatte das Reich der Númenórer zu seiner Zeit bestanden, und derZenit seines Glücks war erreicht, doch noch nicht seiner Macht. Wenig behagte Atanamir der Rat der Boten, und er schenkte ihm keine Achtung, darin gefolgt von der Mehrzahl der Númenórer, denn sie wünschten, noch zu ihrer Zeit dem Tod zu entgehen und nicht hoffen und warten zu müssen. Und Atanamir wurde sehr alt und klammerte sich noch ans Leben, als es längst keine Freude mehr war; und er war der erste der Númenórer, der dies tat. Er wollte nicht scheiden, bis das Alter ihn verblödete und entmannte, und er verweigerte seinem Sohn die Nachfolge, als der in den besten Jahren stand. Denn unter den Fürsten von Númenor war es Brauch gewesen, spät zu heiraten und die Herrschaft den Söhnen abzutreten, sobald diese an Körper und Geist voll erwachsen waren.
Dann wurde Tar-Ancalimon König, Atanamirs Sohn, und er war gleichen Sinnes; zu seiner Zeit spaltete sich das Volk von Númenor. Die größere Partei auf der einen Seite nannte man die Gefolgsleute des Königs, und diese wurden hochmütig und fremd den Eldar und Valar. Die kleinere Partei auf der Gegenseite nannte man die Elendili, die Elbenfreunde, denn sie blieben zwar gleichfalls dem König und dem Hause Elros’ ergeben, wollten aber mit den Eldar Freundschaft halten und hörten auf den Rat der Herren des Westens. Doch blieben auch sie, die sich selbst die Getreuen nannten, von der Heimsuchung ihres Volkes nicht verschont, und auch sie betrübte der Gedanke an den Tod.
So wurde das Glück von Westernis geschmälert, seine Macht aber und sein Glanz wuchsen weiterhin. Denn die Könige und ihr Volk hatten all ihr Wissen noch nicht verloren, und wenn sie die Valar nun auch nicht mehr liebten, sie fürchteten sie noch immer. Den Bann zu brechen und offen über die ihnen gewiesenen Grenzen hinauszufahrenwagten sie nicht. Immer noch steuerten sie ihre hochmastigen Schiffe gen Osten. Dunkler und dunkler aber bedrückte sie die Furcht vor dem Tode, und mit allen Mitteln zögerten sie ihn hinaus; und sie begannen große Häuser für ihre Toten zu bauen, während ihre Weisen sich ohne Unterlass bemühten, das
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