Das singende Kind
die Tränen über das Gesicht. »Das muß ich mir nicht sagen lassen«, sagte sie.
»Ich nehme es zurück.«
Grete Fortgang schüttelte den Kopf. Sie ging in den Flur und griff ihren Hut, der auf dem Schränkchen lag.
Georg kam ihr nach. »Bitte, Mutter«, sagte er und nahm ihre Hand.
»Laß mich los und hol mir die Kuchenform.«
Georg ging in die Küche und holte die Form und steckte sie in eine Plastiktüte, die er unter der Spüle fand. Eine weiße Tüte. Es konnte die sein, die Trudi vor ihm verborgen hatte, oder eine andere. Er schnüffelte an ihr, als ob er eine Spur aufnehmen wollte. Doch die Tüte roch schon nach den Krümeln des Sandkuchens.
»Ich will gehen!« rief Grete Fortgang.
Georg ging hin und gab ihr die Tüte. Er war sich nicht sicher, ob er seine Mutter zurückhalten wollte.
»Du bist gewöhnlich geworden«, sagte sie, öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus.
Georg hatte schon jetzt ein schrecklich schlechtes Gewissen.
Trudi schlenderte noch mal an der alten Frau vorbei und versuchte sich zu erinnern. Das Herzrund des Gesichts. Der gerade Schnitt der glatten dunklen Haare. Teile eines Bildes, das Trudi in ihrem Gedächtnis trug, ohne es mit Namen zu kennen. Sie löste sich von dem Gesicht und sah auf das schwarze Kleid aus brüchiger Seide, um den Blick der Frau nicht zu treffen, deren Augen ihr längst folgten. Trudi blieb in kurzem Abstand zu ihr stehen. Wartete vergeblich, daß die andere in ihrer Aufmerksamkeit nachließ. Die Bahn fuhr ein. Sie stiegen gemeinsam in einen leeren Wagen, gingen auf Plätze zu, die einander gegenüberlagen, setzten die gegenseitige Betrachtung fort.
»Wollen Sie mehr von mir wissen?« Die Frau ließ eine Tasche aus Schlangenleder aufschnappen und holte einen Packen postkartengroßer Fotos hervor, die von einem Gummiband gehalten wurden. Sie zog ein Bild heraus und reichte es Trudi. »1952«, sagte sie, »da war ich fünfunddreißig und habe in einer guten Bar gesungen.«
Trudi hatte das Gefühl, den Moment schon mal gelebt zu haben. Doch sie war nur in die Nähe eines Traumes geraten.
»Sagen Sie nicht, daß ich schön war.«
»Sie sind es immer noch«, sagte Trudi.
»Ich färbe mir die Haare.«
»Singen Sie noch?«
Die Frau lachte. Ein Glockengeklingel, das künstlich klang und nicht zu ihr gehörte. »Das eine oder andere Lied«, sagte sie, »für Freunde, die zuhören können. Wollen Sie kommen und zuhören?«
»Können Sie ein paar Lieder mit mir einstudieren?«
»Sind sie Sängerin?«
»Ja«, sagte Trudi, »ich singe ernste Lieder.«
»Bis wir nicht mehr an Erde kleben - Und dann, was ist's? Was ist das Leben? - Das Leben ist ein Traum.«
»Ja«, sagte Trudi, »das habe ich auch gesungen.«
Die Frau lachte wieder. »Ernste Lieder, da kann ich Ihnen leichtere beibringen. Ich brauche immer Geld.« Sie zeigte auf das Foto, das Trudi noch in der Hand hielt. »Sehen Sie da den Mund, und sehen Sie ihn heute an.« Sie zog die Lippen zu einem Mündchen. »Klein ist er geworden. Das hat die Armut gemacht.«
»Glauben Sie nicht, daß ich zu alt bin?« fragte Trudi.
Die Frau sah überrascht aus. »Für was?«
»Um mit den leichten Liedern anzufangen.«
»Sie sind ja noch ein Kind«, sagte die Frau. Sie steckte den Packen Fotos in die Tasche und drückte sie zu. »Nehmen Sie das Bild nur. Ich habe noch viele davon.«
Trudi fürchtete, sie könne aufstehen und einfach davongehen, sobald die Untergrundbahn die nächste Station erreichte. Zwei waren schon an ihnen vorbeigezogen. Trudi zögerte, nach dem Ziel der alten Frau zu fragen. Sie wußten bereits viel voneinander. Doch die Frage schien ihr die aufdringlichste zu sein.
»Ich bleibe bis zum Ende«, sagte die Frau, ohne gefragt zu werden. »Aber das kommt ja bald, und Sie bleiben sicher auch.«
»Ihre Adresse«, sagte Trudi. Die Frau schwieg.
Sie stiegen gemeinsam aus. Gingen die Treppen hinunter. Trudi mußte ihren Schritt nicht anpassen. Die Alte war kaum langsamer.
»Gehen Sie nun allein los«, sagte die Frau, als sie in der Halle angekommen waren. »Ich bin Cilly Weil. Das Telefon haben sie mir abgestellt. Aber im Telefonbuch finden Sie mich noch.«
Es war Trudi, die erst mal stehenblieb und der kleinen Gestalt im schwarzen Seidenkleid nachschaute. Die alte Frau schüttelte das Haar, daß der Pagenkopf sich hob und den weißen Nacken sehen ließ. Mary Bell. Sie sah aus wie eine alte Mary Bell. Trudi hatte das Foto des kleinen Mädchens fast vergessen gehabt und auch nicht länger
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