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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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Fortgang, die nicht aufgab, ihm Brote mit Schmierwurst in die Tasche zu schieben. Er tauschte sie schon auf dem Schulweg, als wolle er sich schnellstens befreien. Weniger von der Wurst als vom Zwang. Zum Mittagessen hatte es dann so häufig Fleisch gegeben wie nie zuvor in Georgs Leben. Fleisch der billigen Sorte. Fette Bratwurst. Schweinenackenkotelett. Leber. Georg würgte vor seinem Teller und wurde täglich dünner von zu kleinen Portionen Blumenkohl und Gurkensalat. Er fing an, sein Taschengeld auszugeben für Gemüse, das sich roh und aus der Hand essen ließ. Er aß bei Jos und dessen Vater, sooft es seine Mutter erlaubte.
    Grete Fortgang stieß ihn in den Fanatismus, und Georg heiligte das fleischlose Leben, das am Tage der Konfirmation seinen Anfang genommen hatte. Es erhob ihn über den Essengeruch, der sich in den drei Zimmern hielt, egal, wie oft gelüftet wurde. Es erhob ihn über seine Mutter, die darauf wartete, Georg rückfällig werden zu sehen, und die er wenigstens darin zu enttäuschen wagte.
    Die Welt war Georg arm an Werten und wurde noch ärmer, als er entschied, nicht länger an Gott zu glauben. Übrig blieben die Liebe zu Jos und der Vegetarismus. Trudi kam, und Georg liebte sie mehr als Jos und konnte kaum erwarten, sie einzuführen in die letzte reine Lehre. Es war vor einer Wurstbude gewesen, daß er Trudi bat, zu schwören, fortan kein Fleisch zu essen. Trudi hatte geschworen.

Grete Fortgang war keine Frau, die etwas klaglos tat. Sie kam zur Tür herein und stellte den Sandkuchen hin, und Georg wußte gleich, daß sie gelitten hatte. Ihr Gesicht über dem hochgestellten Blusenkragen war gezeichnet. Die Sorge um ihn. Der Kuchen, den sie ihm hatte backen müssen. Der heiße Bus, in den sie gestiegen war, um zu ihm zu kommen. Georg setzte den Teekessel auf, ehe seine Mutter den Hut abgesetzt hatte. Sie sollte wissen, wie sehr er ihre Mühe zu würdigen wußte. Er war dankbar, daß sie nicht den Versuch unternahm, ihn mit einem falschen Hasen aufzupäppeln.
    »Du solltest ihn allein essen«, sagte Grete Fortgang. »Du bist so zart. Sieh dir nur deine Handgelenke an. Deine Uhr schlottert.«
    Georg sah seine Handgelenke an und auf die ungeliebte Omega, die locker am linken hing. Vier Uhr. Trudi kam jetzt oft erst gegen sieben. Georg hoffte, den Besuch seiner Mutter bis dahin glatt über die Bühne gebracht zu haben. »Es geht mir wieder gut, Mutter«, sagte er, »das Band ist nur ausgeleiert.«
    »Dann leiste dir ein neues. Das sollte einem Doktor phil. möglich sein. Joseph ist schuld, daß du nicht Studienrat geblieben bist. Er hat dich zu den Büchern überredet.«
    »Jos hat überhaupt nichts damit zu tun«, sagte Georg. Er deckte den Tisch und hatte schon keine Lust mehr auf Kuchen.
    »Doch«, sagte seine Mutter, »und du krankst an deinem Versagen, eine Karriere zu haben, und an Gertrud, die längst aufgegeben hat, etwas aus sich zu machen. Ihrer ganzen Familie fehlt der Ernst für das Leben.«
    Georg seufzte und wandte sich dem Tee zu. »Ich dachte, du hättest die Absicht, mich aufzubauen«, sagte er.
    »Dazu gehört, daß ich dir sage, was dich krank macht. Arbeitet Gertrud, oder warum ist sie nicht hier, dich zu pflegen?«
    »Mich muß keiner pflegen.«
    »Vielleicht ist es gut, daß ihr kinderlos bleibt. Sie ist keine Frau, auf die du dich verlassen kannst.«
    »Hör auf, Mutter.«
    »Hast du jemals mit ihr über dein Problem gesprochen?«
    »Ich werde es demnächst tun und sie über deine Schuld aufklären.« Er hatte das nicht sagen wollen. Es war auch nicht viel freundlicher, als mit der Faust auf den Kuchen zu schlagen.
    »Wir haben es nicht besser gewußt«, sagte Grete Fortgang. Sie gab ein zirpendes Geräusch von sich. Eine Warnung, daß nur noch wenige Worte nötig waren, um sie zum Weinen zu bringen.
    »Es ist gut«, sagte Georg und setzte sich zu ihr an den Tisch.
    »Du magst den Kuchen nicht.«
    »Doch.« Er hielt immer noch das Messer, mit dem er den Kuchen aufschneiden wollte.
    »Ich habe nicht ertragen können, daß sie dich zu früh operieren. Du hattest noch nie etwas zuzusetzen.«
    »Ich war schon fast in der Pubertät, als du endlich zugestimmt hast, und es war mindestens zehn Jahre zu spät.«
    »Dein Vater hätte sich ja durchsetzen können.«
    »Vermutlich wäre es dir lieber gewesen, wenn meine Eier für alle Zeiten dringeblieben wären.«
    »Georg!« Er hatte sie empört. Für ein paar Sekunden. Dann fing sie an zu zirpen. Als sie aufstand, liefen ihr schon

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