Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
vergessen, ja? Ich bin zu müde. Ich weiß nicht mehr, was ich rede.«
Er zuckt mit den Schultern und sieht weg. »Wir sind beide müde«, sagt er. »Ich weiß nicht mal mehr, warum wir streiten.«
»Wir streiten nicht«, entgegne ich, sehe ihn an und spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen, weil ich verdammt sein will, wenn ich mit ihm streite. »Wir streiten nicht, Will.«
Er tritt näher, streckt eine Hand aus und berührt sanft meinen Arm. Dabei scheint er sich selbst zuzusehen und nicht sicher zu sein, wohin sich die Hand als Nächstes bewegen wird.
»Es ist nur so, dass ich sie schon ewig kenne«, sagt er. »Ich habe, glaube ich, immer angenommen, dass wir füreinander bestimmt sind.«
»Und seid ihr das?«, frage ich, und mein Herz schlägt so heftig in meiner Brust, als seine Hand auf meinem Arm liegen bleibt, dass ich überzeugt bin, er kann es hören. Er sieht mich an, und auf seinem Gesicht liegt eine Mischung aus Verwirrung und Traurigkeit. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, überlegt es sich anders, und währenddessen sehen wir uns weiter an, drei, vier, fünf Sekunden, und ich bin sicher, dass einer von uns jetzt etwas sagen oder tun wird, aber ich verlasse mich auf ihn, denn ich kann es nicht riskieren, und dann, einen winzig kurzen Augenblick lang, denke ich, er tut es, aber genauso schnell überlegt er es sich anders und dreht sich weg. Dabei schüttelt er kräftig seinen Arm aus, und flucht erbittert.
»Verdammt noch mal, Tristan«, zischt er, geht von mir weg und verschwindet in der Dunkelheit. Ich kann seine neuen Stiefel hören, während er den Weg um die Kaserne nimmt und nach Leuten Ausschau hält, die hier nichts zu suchen haben und an denen er all die Wut auslassen kann, die in ihm brodelt.
Meine neun Wochen in Aldershot sind fast herum, und ich wache zum ersten Mal seit meiner Ankunft mitten in der Nacht auf. In sechsunddreißig Stunden ziehen wir ins Feld, aber es ist nicht die Angst davor, was unser Regiment erwartet, wenn wir erst richtige Soldaten sind, die mich aus dem Schlaf gerissen hat. Es ist das gedämpfte Geräusch von irgendeinem Durcheinander auf der anderen Seite des Raumes. Ich hebe den Kopf leicht an, und der Lärm ebbt kurzzeitig ab, bevor er wieder stärker wird: Es klingt wie das verstörende Echo eines Zerrens und Tretens, und dann ist ein »Schschsch!« zu hören, eine Tür öffnet und schließt sich, und endlich wird es wieder still.
Ich öffne die Augen etwas weiter und sehe zu Will hinüber, der auf der Pritsche neben mir schläft. Ein nackter Arm hängt über die Seite herunter, seine Lippen sind leicht geöffnet, und ein dicker Wuschel seines dunklen Haars fällt ihm in die Stirn und über die Augen. Er murmelt etwas im Schlaf, wischt die Haare mit den Fingern der linken Hand zur Seite und dreht sich um.
Ich schlafe wieder ein.
Beim Exerzieren am nächsten Morgen befiehlt uns Sergeant Clayton, Aufstellung zu nehmen, und wir stechen ihm gleich ins Auge, denn der dritte Platz in der zweiten Reihe ist leer. Ein Soldat fehlt unentschuldigt, was seit unserer Ankunft hier im April noch nicht vorgekommen ist.
»Ich habe das Gefühl, ich brauche die Frage erst gar nicht zu stellen«, sagt Sergeant Clayton, »denn ich denke, wenn einer von euch Männern eine Antwort darauf hätte, wäre er damit längst zu mir gekommen. Aber weiß jemand, wo Wolf ist?«
Unter den Männern herrscht völlige Stille. Niemand wendet den Kopf, wie wir es vor neun Wochen noch getan hätten. Wir stehen einfach nur da und starren geradeaus. Wie wir es gelernt haben.
»Das habe ich mir gedacht«, fährt Clayton fort. »Nun, dann lassen Sie mich Ihnen mitteilen, dass unser selbsterklärter Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen verschwunden ist. Der Feigling hat sich in der Nacht aus dem Staub gemacht, aber früher oder später werden wir ihn erwischen, das kann ich Ihnen versprechen. Wobei ich durchaus Gefallen an dem Umstand finde, dass Sie bei Ihrem Ausmarsch hier keinen Feigling mehr in Ihren Reihen haben werden.«
Was er da sagt, überrascht mich etwas, aber ich mache mir keine allzu großen Gedanken. Ich glaube auch nicht einen Moment lang, dass Wolf davongelaufen ist, und bin sicher, er taucht bald schon wieder auf, mit einer völlig lächerlichen Entschuldigung für sein Fehlen. Meine Gedanken sind ganz auf den Samstagmorgen gerichtet. Was wird da geschehen? Werden wir direkt mit dem Zug nach Southampton gebracht, und setzen wir bereits in der Nacht nach
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