Das Spektrum der Toten
Hildegard eingeredet, sie sei so schlecht, dass sie den Tod verdient habe. In jener Nacht eskalierte der Konflikt. Der Vater forderte das Mädchen auf, ihn zu begleiten. Beide verließen die Wohnung und begaben sich zu jener Mainbrücke.
Der Vater befahl Hildegard, über das Geländer zu klettern und in die Tiefe zu springen.
Die Eltern wurden durch das Schwurgericht in Frankfurt des Mordes angeklagt, weil sie vorsätzlich und mit Überlegung den Tod ihren jüngsten Kindes herbeizuführen versucht hatten. Zusätzlich wurde der Vater wegen schwerer körperlicher und seelischer Misshandlung der Tochter angeklagt.
Zum ersten Mal bestrafte hier ein deutsches Gericht den psychischen und physischen Zwang zum Selbstmord als Mord bzw. Mordversuch: Die Eltern wurden wegen gemeinschaftlichen Mordversuchs und schwerer Kindesmisshandlung zu je 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Dr. Mayer hält es, wie dieser Fall zeigt, grundsätzlich für möglich, »dass eine jugendliche und unkritische Persönlichkeit, die sonst geistig und körperlich völlig gesund sein kann… lediglich systematisch durch dauernd schlechte Behandlung, unglückliche häusliche Verhältnisse, übertriebene Bestrafung kleiner Fehler zu einer verzweifelnden und lebensverneinenden Betrachtung ihres Ichs gedrängt wird.« Diese suggestive Umwandlung der Eigenkritik bewirkt eine erhöhte psychische Labilität, die wiederum die Möglichkeit von Verbrechen auf suggestiver Grundlage schafft. Es entstehen seelische Zwangszustände, bei denen Selbstmord als einziger Ausweg erscheint.
Der bekannte Jurist Prof. Middendorf wies 1982 darauf hin, dass es neben dem psychogenen Tod auch den psychischen Mord gibt. Dieser sei allerdings durch die Obduktion nicht nachweisbar, wenn der Täter keinerlei physische Einwirkung auf das Opfer ausgeübt hat. Middendorf nannte drei verschiedene Strategien eines Täters, der durch psychische Einwirkung einen perfekten Mord zu vollbringen sucht.
Die erste Strategie: Der Täter veranlasst durch Täuschung oder Überredung das Opfer, sich selbst in eine lebensgefährliche Situation zu bringen, z. B. überredet er einen schwer herzkranken Menschen, ihn auf einer anstrengenden Gebirgswanderung zu begleiten, vielleicht sogar noch bei Fönwetter, dem der Kreislauf nicht gewachsen ist.
Die zweite Strategie: Der Täter veranlasst sein Opfer zum Selbstmord oder fordert den vom Opfer beabsichtigten Selbstmord oder verhindert ihn nicht: »Die Verstärkung von Schuldgefühlen beim Partner während einer Depressionsphase kann zu dessen Selbstmord führen. Es ist auch möglich, dass ein Partner den anderen zu einem Doppelselbstmord überredet und ihn dann zuerst sterben lässt, ohne selbst diese Absicht zu haben.« Dazu gehört auch der psychische Zwang innerhalb von Sekten, die Mitglieder veranlasst, sich selbst zum Opfer zu bringen.
Die dritte Strategie: Der Täter wirkt direkt psychisch auf sein Opfer ein, um ohne dessen Mitwirkung seinen Tod zu erreiche n. Beispielsweise geschehen in Konzentrationslagern. »Und zwar durch eine völlig willkürliche Behandlung, durch unberechenbares Verhalten des Personals, erzwungene Selbsterniedrigung der Insassen und die Ungewisse Zukunft… Wer sich selbst aufgab, war schon verloren.« Auch der Rechtsmediziner K.-D. Stumpfe nannte die hilflose und ausweglose Situation des Gefangenseins in einem Kriegsgefangenen- oder Konzentrationslager als Ursache des psychogenen Todes bzw. psychischen Mordes.
Am Schluss dieses Kapitels soll ein Fall stehen, in dem die strategische Planung eines psychischen Mordes geschildert wird. Der Text stammt von einem jungen Militärarzt. In seiner Dissertation 1780 hatte er über den Zusammenhang von körperlicher und geistiger Natur des Menschen geschrieben, dass beide eng miteinander verschlungen seien und sich »wechselweise mitteilen und verstärken«. Also: die Tätigkeit des Körpers entspreche der Tätigkeit des Geistes; d. h. starke Überspannung von Geistestätigkeit hat jederzeit eine gewisse körperliche Aktion zur Folge…
1781 setzte der Autor die Erkenntnis vom Zusammenhang von Geist, Seele und Körper in einer konkreten Figur um. Der junge adlige Franz M. plant, seinen Vater zu beseitigen, um Herr des väterlichen Besitzes zu werden.
Es soll ein vollkommener Mord und nicht nachweisbar sein -
ein psychischer Mord.
Und so stellte der Militärarzt die Strategie des Psychomordes dar:
Franz von Moor (nachdenkend in seinem Zimmer):
»Es dauert mir zu
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