Das Spektrum der Toten
sie ja nicht umbringen«, antwortete Annette deprimiert.
»Nein, natürlich kann ich sie nicht umbringen. Doch ich
denke eben manchmal daran. Ehrlich gesagt, immer öfter. Ich kann mich einfach nicht dagegen wehren.«
»Und wie wolltest du sie töten?«
»Ich tue es ja doch nicht.«
»Gott sei Dank! Ich hätte Angst um dich. Aber es ist ja nur ein Gedankenspiel, das beruhigt mich.«
Damit war das Gespräch beendet. Doch Jürgen war aufgefallen, wie gelassen Annette seine Mordgedanken aufgenommen hatte. Sicherlich, sie waren ihr nur als Gedankenspiel erschienen. Aber ihr Einspruch war schwächer, als er erwartet hatte - wahrscheinlich, weil er beteuert hatte, es ja doch nicht zu tun.
Einige Tage später kam Jürgen wieder auf sein »Gedankenspiel« zu sprechen.
»Es wäre wirklich am besten, wenn Hilde aus unserem Leben verschwindet. Aber obgleich ich eine Pistole besitze, könnte ich mich nie dazu aufraffen, sie zu töten. Traurig, nicht wahr?«
Annette gestand, auch sie habe sich schon mit Hildes Tod beschäftigt.
Jürgen erwiderte, er habe sogar an einen bezahlten Mörder gedacht. Für den wäre das Ganze einfach. Er erhielte eine genaue Beschreibung der Wohnung, Hinweise, wann er Hilde allein antreffe, um die Tat auszuführen. Die Kinder sollten ja nicht dabei sein. Es müsste geschehen, wenn sie in der Schule wären. »Aber was rede ich da, es ist ja nur ein Hirngespinst«, meinte er dann zögernd.
Annette hörte schweigend zu. Jürgen war insgeheim verärgert, dass sie überhaupt nicht reagiert hatte.
Als sie das nächste Mal zusammen waren, nahm Annette das Gespräch über den Mord wieder auf. Sie ließ sich die Wohnung beschreiben, die Schulzeit der Kinder, die Gewohnheiten Hildes. Jürgen war verblüfft. Würde Annette ihm die Tat abnehmen?
Von nun an ging Jürgen das Unternehmen entschlossen und zielgerichtet an. Mit großem Geschick wandte er seine anfangs unbewusste, aber anscheinend erfolgreiche Strategie an, vom Nutzen des Mordes und seiner Durchführung zu reden und ihn gleich danach wieder abzulehnen. Zumeist nahm Annette seine Worte kommentarlos auf, bis sie ihn mit der Frage überraschte, ob Jürgen ihr einmal die Pistole zeigen und ihr den Gebrauch erklären würde.
Erfreut sagte Jürgen zu, brachte beim nächsten Besuch die Pistole mit und erklärte Annette ihre Funktion.
Am folgenden Vormittag, als Hilde allein zu Hause war, suchte Annette die Frau ihres Geliebten auf und tötete sie mit dessen Pistole.
Ferdinand Schoen hatte diesen Fall psychiatrisch zu begutachten.
Er sagte dazu u. a.: »Diese Frau war suggestiven Einflüssen unterlegen, ohne dass ihr diese richtig zu Bewusstsein kamen. Dabei wurde sie zur Mörderin. Ihr Geliebter, der Ehemann der Ermordeten, war nach dem Empfinden aller an der Verhandlung Beteiligten der ›Regisseur‹ des Mordes. Die Mörderin handelte in allem wie in einer Hypnose und gab an, sie hätte nur das getan, was der des Mordes mitangeklagte Ehemann gesagt und gewollt hätte. Sie war im unklaren darüber, wie und wo sie die einzelnen Kenntnisse, die sie nur von ihm mitgeteilt bekommen haben konnte, in Erfahrung gebracht hatte… So nahm die Mörderin immer mehr Kenntnisse in sich auf, und zuletzt entstand aus Liebe zu dem Mann der Mord an ihrer Nebenbuhlerin.«
Schoen sah die Täterin als ein Opfer der Wachsuggestion. Ihre Tat entsprach letzten Endes ihrem eigenen Wollen und Empfinden. Der Einfluss der Wachsuggestion für das Begehen von Verbrechen wird meist unterschätzt. »Hier lag eine ganz raffinierte und bis in alle Einzelheiten ausgedachte Art der Beeinflussung vor, bei welcher der Verbrecher nicht in einem für das Gericht verantwortlichen Maß zutage trat.
Die Angeklagte wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der des Mordes mitangeklagte Ehemann der Ermordeten wurde wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Es unterlag aber keinem Zweifel, dass der moralische Täter der Mitangeklagte gewesen war.«
Wenige Jahre später trug sich in Frankfurt am Main ein ähnlicher Fall zu. Darüber berichtet der Heidelberger Arzt Dr. Ludwig Mayer. In der Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1934 sprang die 14jährige Hildegard Höfeid von der Deutschherrnbrücke in den Main. Der Selbstmord scheiterte. Hildegard konnte sich ans andere Ufer retten.
Bei der Vernehmung der Eltern und des Mädchens stellte sich heraus, dass die Eltern und ihre 16jährige Tochter Minna das Kind jahrelang seelisch und körperlich misshandelt hatten. Immer wieder hatten sie
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