Das Spektrum der Toten
einer Operation in der Kindheit vorhanden. Ferner war der Durchschuss am Kopf und an der 8. Rippe zu sehen.
Der Tote war eindeutig Massen.
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen Brettschneider Anklage wegen Mordes. Auch im Schwurgerichtsprozess leugnete Brettschneider entschieden die Tat.
Er wiederholte: Was er seinen Zellengenossen über den Mord erzählt habe, habe er aus einem Zeitungsbericht erfahren. Die Zeitung sei als Einwickelpapier zu ihm ins Gefängnis gelangt. Der Richter hielt ihm entgegen, damals sei nur eine kurze Notiz über eine unbekannte Leiche erschienen. Erwähnt wurde nur eine Verletzung an der Brust. »Woher«, so fragte der Richter, »wussten Sie den Namen des unbekannten Toten, woher wussten Sie von dem Kopfschuss, woher kannten Sie all die anderen Einzelheiten?« Brettschneider hatte darauf keine Antwort.
Weiter über sein Mordgeständnis im Traum befragt, leugnete er, dergleichen gestanden zu haben. Wenn er im Traum über einen Mord gesprochen habe, dann sei das die Erinnerung an jenen Zeitungsbericht.
Die Staatsanwaltschaft war sich bei der Ausarbeitung der Anklage bewusst, auf welch schwankendem Boden sie stand. Eine Mordanklage, die sich im wesentlichen auf einen Traum stützte, das war in der modernen Kriminalgeschichte ein einzigartiger Fall. Deshalb hatte sie sich eines wissenschaftlichen Gutachters versichert, des Düsseldorfer Rechtsmediziners Dr. Berg, der auch als erfahrener psychologischer Sachverständiger galt. (Wenige Jahre später war Dr. Berg einer der Hauptgutachter gegen den Düsseldorfer Serienmörder Kürten.)
Dr. Berg berichtete 1925 auf der XIV. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche und soziale Medizin in Bonn über seine psychologischen Erkenntnisse im Fall Brettschneider. Er war dabei zu der Auffassung gelangt, dass jenem Traum ein wirkliches Erleben zugrunde lag. Nichts könne im Traum erscheinen, was nicht zuvor ins Bewusstsein eingegangen wäre. Daneben könne Traum aber auch einen Sinneseindruck halluzinieren. Der Traum reproduziere jedoch nicht nur Selbsterlebtes, sondern auch das, was wir gelesen und gehört haben.
»Stark affektbetonte Trauminhalte knüpfen in der Regel an wirkliche Erlebnisse an; solche, die in Form von Angstträumen öfter im Leben wiederkehren, sind nach meinen Beobachtungen stets selbst erlebt«, führte Dr. Berg aus und sagte dann weiter, es gäbe gegensätzliche Meinungen darüber, ob Mörder im Traum immer wieder einen Tod nacherleben. Manche Forscher seien der Ansicht, Mörder hätten meist einen ruhigen, traumlosen Schlaf. Nach seiner Überzeugung träfe das aber nur auf stumpfe und schwachsinnige Täter zu. Sensible, leicht erregbare Gemüter dagegen neigten zu affektbetonten Träumen. Brettschneider sei ein solch leicht erregbarer Psychopath. Der Zeuge Krüger habe beobachtet, wie sein Mordtraum affektiv ablief und er sich unruhig im Bett wälzte. Und Brettschneider hatte ja auch den beiden Zeugen gestanden, dass ihm der Mord schwer auf der Seele läge und er oft von jenem schrecklichen Ereignis träume. Der Waschzwang deute ebenfalls auf einen affektgeladenen Charakter hin.
»Also aus dem Wiederkehren des Affekttraumes bei Brettschneider habe ich auf ein früheres Miterleben des Trauminhaltes geschlossen. Den Geschworenen habe ich allerdings ausdrücklich gesagt, dass die notwendige Voraussetzung zu diesem Schluss die Glaubwürdigkeit des Zellengenossen Krüger sei, und ferner, dass ein solches Miterleben nicht ein Mithandeln zu sein brauche.
Dazu kommt aber noch ein zweites Wichtiges: Über seine Traumäußerung von den Zuhörern zur Rede gestellt, berichtet Brettschneider den ganzen Verbrechenshergang mit einer bis in die Einzelheiten gehenden Genauigkeit. Wohlverstanden, er erzählt nicht etwa seinen Traum, sondern einfach sein Erlebnis mit dem Mord an Massen. Seine Erzählung deckt sich inhaltlich mit dem am Traumreden erkennbaren Trauminhalt. Wir haben somit ein unbewusstes und ein bewusstes Preisgeben des bis dahin gehüteten Geheimnisses. Das eine bestätigt das andere. Wenn Brettschneider hinterher behauptet hat, er hätte mit seiner Erzählung geflunkert, so könnte er mit dieser Ausrede vielleicht seinen Bericht an die Genossen entkräften, nicht aber sein Traumreden. Denn das Traumreden als Ausdruck des Unbewussten kann nicht absichtlich gefälscht werden.
Wenn wir noch bei dem Trauminhalt verweilen, so stellen die uns von den Zeugen übermittelten Traumworte den Inhalt gewissermaßen als Schlagworte
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