Das Spektrum der Toten
verreckt.«
»Die Tiere waren verhext?« fragt Mollenhauer verblüfft.
»Weißt du eine andere Erklärung?«
Hilflos schüttelt der Bauer den Kopf.
»Jetzt ist es zu spät«, sagt der Schäfer, »und wenn du die Hexe nicht findest, wird dir bald wieder Vieh sterben.«
Das ist schon oft genug geschehen, möchte Mollenhauer sagen. Er denkt an die Schweinelähmung, die Hühnerpest, die fünf toten Rinder, die erkrankten Zugpferde. Aber er wagt nicht, das dem Schäfer zu erzählen, er fürchtet seine Vorwürfe, ihn nicht um seine Hilfe gebeten zu haben, »Und wie finde ich die Hexe?«
»Seid wachsam! sagte unser Herr Jesus Christ. Bleibt wach, besonders in den hellen Nächten. Und wenn zwischen Mitternacht und ein Uhr eine Gestalt an deinem Fenster erscheint, sieh sie dir genau an, und du erblickst die Hexe, die dir Schaden zugefügt hat. Es ist die alte Modock.«
»Die Modock? Das ist ja meine Nachbarin! Woher weißt du das?«
»Ich weiß vieles, was du nicht weißt. Also sei wachsam, Herrmann. Und nun will ich deine Galle vom Zauberbann erlösen.«
Mollenhauer streckt dem Schäfer die rechte Hand entgegen, wie so oft schon, wenn er sich die Schmerzen wegbeten ließ. Der Schäfer bückt sich, stößt seinen Zeigefinger in das feuchte Erdreich und zeichnet mit der schlammigen Fingerkuppe langsam drei Kreuze auf Mollenhauers Handrücken. Seine Lippen bewegen sich lautlos. Mollenhauer hätte gern erfahren, welche Gebete der Schäfer dabei murmelt, aber er scheut sich, danach zu fragen. Mit seiner Neugier hätte er vielleicht das Gebet unwirksam gemacht.
Der Schäfer richtet sich auf. »Nicht lange, und du wirst von deinen Schmerzen befreit sein.«
Mollenhauer nickt dankbar. So war es immer. Immer hatte ihm der Schäfer die Schmerzen weggebetet. Er steckt ihm ein Markstück in die Manteltasche und reicht ihm zum Abschied die Hand.
Die beiden haben sich schon umgewandt, um zum Wagen zurückzugehen, da hört Mollenhauer den Ruf des Schäfers: »Herrmann!«
Er bleibt stehen und dreht sich um.
»Sei wachsam, Herrmann!« Der Schäfer legt den Zeigefinger an die Lippen: »Und schweigsam! Zu niemandem ein Wort!«
Die Rückfahrt verläuft in erregtem Gespräch. Längst zurückliegende Ereignisse bekommen nach der Offenbarung des Schäfers einen neuen Sinn. Ein Weg verbindet Mollenhauers Gut mit dem Flurstück Modocks. Um zum eigenen Hof zu gelangen, muss Mollenhauer einen Teil des Weges benutzen, der zu Modocks Anwesen gehört. Modocks haben dagegen niemals Einwände erhoben. Aber vor einem Jahr, als sich Toegel den alten »Adler« gekauft hatte, hinterließ der Wagen bei Regenwetter tiefe Spuren auf dem ungepflasterten Weg.
Modock hatte Toegel deshalb aufgefordert, den Weg bei schlechtem Wetter nicht zu befahren. Toegel und Mollenhauer dagegen hatten auf das Gewohnheitsrecht verwiesen, aber Modock war fest geblieben und hatte sogar mit einer gerichtlichen Klärung des Streits gedroht. Toegel musste sich fügen. Seitdem schwebte Verbitterung zwischen den beiden Familien. Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Toegel, der »Schlechtwetter« anders auslegte als die Modocks.
»Sie wollen sich an mir rächen«, sagt Toegel düster. »Vielleicht verhext die Modock auch noch mein Auto.«
Mollenhauer stimmt ihm zu. »An der Offenbarung des Schäfers ist nicht zu rütteln, der besitzt das geheime Wissen. Er lässt uns daran teilhaben, damit wir uns zur Wehr setzen können.«
Aber wie sich wehren gegen die Mächte des Bösen?
»Martin, fahr zurück! Der Schäfer muss mir sagen, was wir gegen die Hexe unternehmen können!«
Toegel sieht das ein, er wendet.
Im Wiesengrund steht noch immer die Gestalt des Schäfers, reglos, als seien seine Gedanken in ferne Welten entrückt.
Dürfen wir ihn in diesem Zustand stören? fragt sich Mollenhauer. Aber er wird verstehen, dass wir uns gegen die Hexe wehren müssen. Der Schäfer versteht das, er gibt willig guten Rat.
»Hexen zaubern nach geheimen Anweisungen, die findest du nur in Hexenbüchern. Die musst du der Hexe entwenden. Dann verliert sie die Macht über euch.«
Die nächsten Wochen vergehen in fiebriger Hast. Mollenhauer und Toegel bindet das gemeinsame Wissen, das sie mit niemandem teilen dürfen, noch enger aneinander.
Sie beobachten das Nachbarhaus, suchen nach Anzeichen, die den Verdacht des Schäfers bestätigen. Überlegen, wie sie der Modock die Hexenbücher entwenden könnten. Hocken in Winkeln und Ecken zusammen, grübeln und fluchen.
Toegel
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