Das Spektrum der Toten
mich, meine Frau, die Eltern, das Kind, den Schwager? Mollenhauer ruft sich zur Vernunft. Wie sollte uns jemand verfolgen? Er müsste die Tiere vergiftet haben. Doch der Tierarzt hat gesagt, es seien Infektionen gewesen. Vielleicht hat sich der Tierarzt aber auch geirrt, und es war doch Gift im Spiel? Nur, warum hat uns das jemand angetan?
Zum Spaß? Aus Bosheit? Auch Neid könnte ein Anlass sein. Neid, weil wir uns immer wieder nach all den Verlusten hochgerappelt haben. Die Zeiten sind unsicher seit dem großen Börsenkrach im vorigen Jahr. Weltwirtschaftskrise, Millionen Arbeitslose, Verschuldung, Zusammenbrüche. Allein in unserem Dorf zwei Bauernhöfe zwangsversteigert. Aber wir stehen immer noch da, wirtschaften ohne Schulden. Will uns ein Neider kaputtmachen? Der muss verdammt schlau sein bei seinen Anschlägen, dass er sogar den Tierarzt täuschen konnte.
Bei diesen Gedanken spürt Mollenhauer einen stechenden Schmerz im Bauch, die Galle meldet sich wieder. Seit Tagen reagiert sie mit Schmerzattacken auf seinen Ärger und Zorn wegen der toten Ferkel. Und das gerade jetzt, wo das Heu eingefahren werden muss.
Ich kann nicht warten, bis sich die Galle beruhigt. Das kann Wochen dauern. Ich muss zum Schäfer, am besten noch heute.
In diesem Augenblick hört Mollenhauer Schritte hinter sich. Martin Toegel tritt aus dem Haus, zwei Koffer in den Händen. Der Schwager bricht zu seiner Verkaufstour auf, er handelt mit Kurzwaren. Mit seinem alten »Adler« erreicht er auch entlegene Dörfer.
Ein kurzer Morgengruß, einige Worte über das Wetter. Martin hat seine Wohnung auf dem Bauernhof und einen Unterstellplatz für seinen »Adler«. Manchmal hilft er in der Landwirtschaft mit, und auch in der Dorfschenke sitzen sie zusammen bei einem Bier. Toegel erklärt sich bereit, den Schwager zum Schäfer zu fahren. Auch er kennt den Schäfer Meyer seit langem und lässt sich, wenn ihn Rheuma oder Kopfschmerzen plagen, von ihm behandeln.
»Steig ein, Herrmann.«
Nach einer Viertelstunde sind sie auf dem Rittergut, für das der Schäfer arbeitet. Sie lassen sich sagen, wo sie Meyer finden können. Auf schlammigen Feldwegen erreichen sie einen Wiesengrund, auf dem sich grasend eine Schafherde bewegt. Der Schäfer, eine hochaufragende Gestalt in langem Mantel, den Kopf von einem Schlapphut bedeckt, steht reglos auf seinen Stock gestützt. Mollenhauer und Toegel verlassen den Wagen und nähern sich dem Schäfer.
Ihre zögernden Schritte verraten ihre Ehrfurcht, die sie vor dem alten Mann mit dem Rauschebart empfinden. Es ist nicht nur die Ehrfurcht vor dem Alter, das tiefe Falten in das Gesicht des Schäfers gegraben hat. Es ist etwas anderes: Die Scheu vor dem Geheimnis, das ihn umgibt, die Scheu vor der Macht, die der Schäfer über Mensch und Tier besitzt. Denn Meyer steht mit überirdischen Gewalten in Verbindung. Man weiß nicht genau, ob direkt mit Gott oder mit Engeln oder anderen himmlischen Mächten. Er ist der Mittler zwischen den bedrängten Menschen und den hilfreichen Mächten. Und wer wegen einer Krankheit oder anderer Gebrechen seine Hilfe erbittet, dem wird geholfen.
Mollenhauer und Toegel haben es schon mehrmals am eigenen Leibe erfahren. Meine Galle könnte ein Loblied davon singen, sagt Mollenhauer immer, wenn er den Schäfer aufgesucht und der die Schmerzen weggebetet hat. Und niemals fordert der Schäfer Geld für seine Heilung, schweigend nimmt er an, was man ihm freiwillig bietet, sei es ein Groschen oder eine Mark.
Nun haben sie den Wundermann erreicht. Nach freundlicher Begrüßung bringt Mollenhauer sein Anliegen vor. Es sei wieder die Galle. Vom Ärger, fügt er hinzu, vom Zorn über sein Unglück.
Der Schäfer forscht nach: »Welches Unglück denn, Herrmann?«
Mollenhauer berichtet vom Sterben der 19 Läufer und dass er den Tierarzt zu spät gerufen habe.
Stumm schaut der Schäfer den Bauern an, dann lächelt er verächtlich.
»So also wolltest du deinen Tieren helfen? Mit einem Viehdoktor? Warum bist du nicht zu mir gekommen, dann lebten alle 18 noch.«
»Es waren 19«, wendet Mollenhauer ein.
»Es wären nur noch 18 geblieben. Aber jetzt an Leib und Seele gesund. Eins hättest du opfern müssen, damit die anderen leben. Dieses eine hättest du lebendig auf ein Brett nageln müssen, dann hättest du ihm die Brusthöhle aufschneiden und das noch zuckende Herz mit dem Messer durchbohren müssen. Die anderen 18 wären gesund geworden, doch die Hexe wäre krank geworden am Herzen und daran
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