Das Spiel
wenigen Wolken hängen weit entfernt im Osten.
»Ja«, sagt er, und als sie ihn ansieht, stellt sie zu ihrer großen Erleichterung fest, dass es ihm ernst ist. »Möchtest du auf meinem Schoß sitzen?«
»Darf ich?«
»Klar doch.«
Also macht sie es und freut sich über seine Nähe und Wärme und den süßlichen Schweißgeruch – den Geruch von Daddy -, während der Tag noch dunkler wird. Am meisten freut sie sich aber, weil es wirklich ein bisschen beängstigend ist, beängstigender, als sie es sich vorgestellt hat. Am meisten macht ihr Angst, wie ihre Schatten auf der Veranda verblassen. Sie hat noch nie gesehen, wie Schatten auf diese Weise verblassen und ist fast überzeugt, dass sie es nie wieder sehen wird. Das macht ihr überhaupt nichts aus, denkt sie, kuschelt sich an und ist froh (zumindest für die Dauer dieses unheimlichen, kurzen Zwischenspiels), wieder ihres Vaters kleine Punkin zu sein, statt der normalen alten Jessie – zu groß, zu schlaksig … zu nörglerisch.
»Kann ich schon durch das Rußglas sehen, Dad?«
»Noch nicht«, sagt er, und seine Hand liegt warm und verschwitzt auf ihrem Schenkel. Sie legt ihre Hand auf seine, dreht sich zu ihm um und grinst.
»Aufregend, nicht?«
»Ja. Das ist es, Punkin. Sogar mehr, als ich gedacht habe.«
Sie rutscht wieder hin und her und will eine Möglichkeit finden, sich den Platz mit diesem harten Teil von ihm zu teilen, auf dem ihre Kehrseite jetzt ruht. Er zieht rasch und keuchend Luft über die Unterlippe ein.
»Daddy? Bin ich zu schwer? Habe ich dir wehgetan? «
»Nein. Alles bestens.«
»Kann ich schon durch das Glas sehen?«
»Noch nicht, Punkin. Aber bald.«
Die Welt sieht nicht mehr so aus, als wäre die Sonne hinter einer Wolke verschwunden; jetzt sieht sie aus, als wäre am helllichten Nachmittag die Dämmerung hereingebrochen. Sie hört die alte Heule-Eule im Wald und erschauert bei dem Laut. Bei WNCH werden die Dixie Cups ausgeblendet, und dem Discjockey, der übernimmt, wird gleich Marvin Gaye folgen.
»Schau auf den See, Jessie!«, sagt Daddy zu ihr, und als sie gehorcht, sieht sie eine unheimliche Dämmerung über eine ausgeblutete Welt heraufziehen, aus der jegliche Farbe gewichen ist, bis nur gedämpfte Pastelltöne übrig geblieben sind. Sie erschauert und sagt ihm, dass es unheimlich ist; er sagt ihr, sie soll versuchen, nicht so sehr Angst zu haben, dass sie es nicht genießen kann, eine Bemerkung, die sie Jahre später gründlich – vielleicht zu gründlich – nach einer Zweideutigkeit abklopfen wird. Und jetzt …
»Dad? Daddy? Sie ist fort. Kann ich …?«
»Ja. Jetzt ist es gut. Aber wenn ich aufhören sage, musst du aufhören. Keine Widerrede, verstanden?«
Er gibt ihr drei Scheiben gerußtes Glas als Stapel, aber vorher gibt er ihr einen Topflappen. Er gibt ihn ihr, weil er die Scheiben aus einem alten Schuppenfenster herausgelöst hat und seiner Fähigkeit als Glasschneider alles andere als vertraut. Und als sie in diesem Erlebnis, das sowohl Traum als auch Erinnerung ist, die Topflappen betrachtet, springt ihr Gedächtnis plötzlich so behände wie ein Akrobat, der einen Salto schlägt, noch weiter zurück, und sie hört ihn sagen:
»Ich will auf keinen Fall …«
29
»… dass deine Mutter nach Hause kommt und einen Zettel findet, auf dem steht …«
Jessie riss die Augen auf, als sie diese Worte in das verlassene Zimmer sagte, und als Erstes erblickte sie das leere Glas: Geralds Wasserglas, das immer noch auf dem Regal stand. Neben der Handschelle, die ihr Gelenk an den Bettpfosten kettete. Nicht das linke, sondern das rechte.
… einen Zettel findet, auf dem steht, dass ich dich zur Notaufnahme des Oxford Hills Hospital bringen musste, damit sie dir ein paar Finger annähen können.
Mittlerweile begriff Jessie den Zweck dieser alten, schmerzlichen Erinnerung; begriff, was Punkin ihr die ganze Zeit zu sagen versucht hatte. Die Lösung hatte nichts mit dem alten Adam zu tun, auch nicht mit dem schwachen Mineraliengeruch des feuchten Flecks auf ihrer alten Baumwollunterhose. Sie hatte etwas mit den sechs Glasscheiben zu tun, die vorsichtig aus dem bröckelnden Kitt des alten Schuppenfensters geschnitten worden waren. Sie hatte die Dose Nivea-Creme verloren, aber ein Gleitmittel blieb ihr noch, oder nicht? Eine andere Möglichkeit, ins Gelobte Land hinüberzuflutschen. Blut. Bevor es gerann, war Blut fast ebenso glitschig wie Öl.
Es wird tierisch wehtun, Jessie.
Ja, selbstverständlich
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