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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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würde es tierisch wehtun. Aber sie glaubte, dass sie irgendwo einmal gehört oder gelesen hatte, dass sich in den Handgelenken wesentlich weniger Nerven befanden als an vielen anderen lebenswichtigen Körperteilen; darum war es seit den ursprünglichen Toga-Partys im alten Rom eine bevorzugte Methode des Selbstmords, sich die Pulsadern aufzuschlitzen, speziell in einer Badewanne voll heißem Wasser. Außerdem war sie sowieso halb betäubt.
    »Ich muss halb betäubt gewesen sein, dass ich mich überhaupt von ihm mit diesen Dingern habe fesseln lassen«, krächzte sie.
    Wenn du zu tief schneidest, verblutest du, genau wie die alten Römer.
    Ja, gewiss würde sie das. Aber wenn sie gar nicht schnitt, würde sie hier liegen, bis sie an Krämpfen oder Durst zugrunde ging … oder bis ihr Freund mit der Tasche voller Knochen heute Abend hier erschien.
    »Okay«, sagte sie. Ihr Herz schlug rasend schnell, und sie war zum ersten Mal seit Stunden wieder richtig wach. Die Zeit setzte mit einem Ruck wieder ein wie ein Güterzug, der vom Abstellgleis wieder auf den Schienenstrang rangierte. »Okay, das hat mich überzeugt.«
    Hör zu, sagte eine drängende Stimme, und Jessie stellte erstaunt fest, dass es die Stimme von Ruth und Goodwife zusammen war. Sie waren verschmolzen, wenigstens vorübergehend.
    Hör gut zu, Jess.
    »Ich höre zu«, sagte sie ins leere Zimmer. Sie sah sich auch um. Sie betrachtete das Glas. Eins von zwölf, die sie vor drei oder vier Jahren bei Sears im Ausverkauf geholt hatte. Sechs oder acht waren inzwischen kaputt. Bald würde sich noch eins dazugesellen. Sie schluckte und verzog das Gesicht. Es war, als würde sie mit einem flanellbezogenen Stein im Hals schlucken. »Ich höre genau zu, glaubt mir.«
    Gut. Denn wenn du einmal damit angefangen hast, wirst du nicht mehr aufhören können. Alles muss ziemlich schnell passieren, weil dein Körper bereits ausgedörrt ist. Aber vergiss nicht: Selbst wenn alles schiefgeht …
    »… es wird alles glattgehen«, sprach sie zu Ende. Und das stimmte, oder nicht? Die Situation war jetzt so simpel, dass es auf eine grausige Weise fast elegant war. Sie wollte selbstverständlich nicht verbluten – aber wer wollte das schon? Aber es wäre besser als immer schlimmere Krämpfe und Durst. Besser als er. Es. Die Halluzination. Was auch immer.
    Sie leckte sich die trockenen Lippen mit der trockenen Zunge und bremste ihre rasenden, wirren Gedanken. Sie versuchte sie zu ordnen wie vorhin, bevor sie die Probedose Gesichtscreme geholt hatte, die jetzt nutzlos auf dem Boden neben dem Bett lag. Sie stellte fest, dass es schwieriger wurde zu denken. Sie hörte immer wieder Fetzen von diesem
    (go greasy)
    Talking Blues, roch das Parfüm ihres Vaters, spürte dieses harte Ding an ihrer Kehrseite. Und dann war da noch Gerald. Gerald schien vom Boden her auf sie einzureden. Es wird zurückkommen, Jessie. Du kannst es nicht daran hindern. Es wird dir eine Lektion beibringen, stolze Schöne mein.
    Sie sah ihn an, aber dann betrachtete sie hastig wieder das Wasserglas. Gerald schien sie mit der Seite seines Gesichts, die der Hund unversehrt gelassen hatte, diabolisch anzugrinsen. Sie unternahm noch einen Versuch, ihren Grips wieder in die Gänge zu bekommen, und nach einiger Anstrengung kamen ihre Gedanken ins Rollen.
    Sie nahm sich zehn Minuten Zeit, die einzelnen Stufen wiederholt zu durchdenken. In Wahrheit gab es nicht viel zu überdenken – ihr Vorhaben war selbstmörderisch riskant, aber nicht kompliziert. Sie ging dennoch jede Bewegung mehrmals im Geiste durch und suchte nach kleinen Fehlern, die sie ihre letzte Überlebenschance kosten konnten. Sie konnte keine finden. Letztlich gab es nur einen entscheidenden Nachteil – es musste sehr schnell geschehen, bevor das Blut gerinnen konnte – und nur zwei mögliche Endergebnisse: rasches Entkommen oder Bewusstlosigkeit und Tod.
    Sie dachte die ganze Sache noch einmal durch – nicht um die unappetitliche Angelegenheit hinauszuschieben, sondern um sie zu untersuchen, wie sie einen selbst gestrickten Schal nach fallen gelassenen Maschen untersuchen würde -, während die Sonne unerbittlich weiter nach Westen wanderte. Auf der hinteren Veranda stand der Hund auf und ließ einen klebrigen Knorpel liegen, auf dem er genagt hatte. Er trottete zum Wald. Er hatte wieder einen Hauch dieses schwarzen Geruchs wahrgenommen, und mit vollem Bauch war selbst dieser eine Hauch zu viel.

30
     
     
     
    Zwölf-zwölf-zwölf blinkte die Uhr,

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