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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nicht der Fall, aber es war so), und nun beeindruckten sie sie noch nachdrücklicher – missgebildete, lange Schläuche, die in den windgepeitschten Schatten zu wabern schienen wie die Tentakel eines Meeresungeheuers. Sie hielten ihr die Tasche wie zur Begutachtung hin, und jetzt sah Jessie, dass es sich nicht um den Musterkoffer eines Handlungsreisenden handelte, sondern um einen Weidenkorb, der wie eine zu groß geratene Fischreuse aussah.
    Ich habe so einen Korb schon einmal gesehen, dachte sie. Ich weiß nicht, ob in einer alten Fernsehserie oder in Wirklichkeit, aber ich habe ihn gesehen. Als ich ein kleines Mädchen war. Er kam aus einem langen schwarzen Auto mit einer Tür hinten.
    Plötzlich ergriff eine leise und bedrohliche UFO-Stimme in ihrem Inneren das Wort: Es war einmal, Jessie, als Präsident Kennedy noch lebte und alle kleinen Mädchen Punkins waren und man den Plastikbeutel noch nicht erfunden hatte – sagen wir einmal zur Zeit der Sonnenfinsternis -, da waren solche Kisten gebräuchlich. Es gab sie in allen Größen, für Männer mit Übergröße bis zu Fehlgeburten im sechsten Monat. Dein Freund bewahrt seine Souvenirs in einer altmodischen Leichenkiste auf, Jessie.
    Als ihr das klarwurde, wurde ihr schlagartig noch etwas anderes klar. Es lag vollkommen auf der Hand, wenn man darüber nachdachte. Der Grund, weshalb ihr Besucher so schlimm roch, war der, dass er tot war. Das Ding in Geralds Arbeitszimmer war ein wandelnder Leichnam.
    Nein … nein, das kann nicht sein …
    Aber es war so. Sie hatte, es war noch keine drei Stunden her, genau denselben Geruch an Gerald wahrgenommen. Hatte ihn in Gerald gerochen, wie er in dessen Fleisch schwärte wie eine exotische Krankheit, mit der sich nur die Toten anstecken konnten.
    Jetzt machte ihr Besucher wieder die Kiste auf und hielt sie ihr hin, und wieder sah sie das Funkeln von Gold und das Glitzern von Diamanten zwischen den Knochenhaufen. Wieder beobachtete sie, wie die schmale tote Hand des Mannes hineingriff und den Inhalt der geflochtenen Leichenkiste umrührte – einer Kiste, in der sich vielleicht einmal der Leichnam eines Babys oder sehr kleinen Kindes befunden hatte. Wieder hörte sie das brüchige Klicken und Klappern von Knochen, ein Geräusch, das sich nach schmutzverklebten Kastagnetten anhörte.
    Jessie sah hypnotisiert und fast ekstatisch vor Angst hin. Ihre geistige Gesundheit war im Schwinden begriffen; sie konnte spüren, wie sie den Bach hinunterging, konnte es fast hören, und sie konnte nichts auf Gottes grüner Erde dagegen machen.
    Doch, du kannst! Du kannst weglaufen! Du musst weglaufen, und du musst es gleich machen!
    Das war Punkin, und sie kreischte … aber sie war auch weit entfernt, in einer tiefen Steinschlucht in Jessies Kopf verirrt. Es gab viele Schluchten da drinnen, stellte sie fest, und viele dunkle, gewundene Täler und Höhlen, die das Licht der Sonne noch nie gesehen hatten – Orte, wo die Sonnenfinsternis nie zu Ende gegangen war, könnte man sagen. Es war interessant. Interessant herauszufinden, dass der Verstand eines Menschen in Wirklichkeit nichts weiter als ein Friedhof über einer schwarzen Höhle war, wo missgestalte Reptilien wie dieses auf dem Grund herumkrochen. Interessant.
    Draußen heulte der Hund erneut auf, und Jessie fand endlich ihre Stimme wieder. Sie heulte mit ihm, ein bellender Laut, aus dem jegliche Vernunft entschwunden war. Sie konnte sich vorstellen, dass sie in einem Irrenhaus solche Laute von sich gab. Den Rest ihres Lebens von sich gab. Sie stellte fest, dass sie sich das mühelos vorstellen konnte.
    Jessie, nein! Halt durch! Bleib bei Sinnen und lauf weg! Lauf weg!
    Ihr Besucher grinste sie an, fletschte die Lippen vom Zahnfleisch weg und entblößte erneut dieses Funkeln von Gold hinten im Mund, ein Funkeln, das sie an Gerald erinnerte. Goldzähne. Es besaß Goldzähne, und das bedeutete, es war …
    Es bedeutet, dass es wirklich da ist, ja, aber das wussten wir bereits, oder nicht? Die einzige Frage ist noch, was wirst du tun? Irgendwelche Vorschläge, Jessie? Wenn ja, solltest du sie lieber ausspucken, die Zeit wird nämlich verflixt knapp.
    Die Erscheinung, die noch die offene Kiste hielt, kam einen Schritt nach vorne, als erwartete sie, dass Jessie den Inhalt bewundern würde. Sie sah, dass es ein Collier trug – ein unheimliches Collier. Der durchdringende, unangenehme Geruch wurde stärker. Ebenso das unübersehbare Gefühl des Bösen. Jessie versuchte, als Ausgleich für

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