Das Spiel
Heizung entweichen. Zuerst brachte Jessie das Geräusch nicht mit dem Arbeitszimmer in Zusammenhang; sie dachte, dass sie es selbst von sich gab. Als sie dann aber den rechten Fuß zum sechzehnten Schritt hob, schwoll das Geräusch an. Dieses Mal nahm sie es deutlicher zur Kenntnis, und Jessie merkte, dass sie es nicht machen konnte, weil sie den Atem anhielt.
Langsam, ganz langsam drehte sie den Kopf zum Arbeitszimmer, wo ihr Mann nie wieder an Justizakten arbeiten würde, während er Marlboros kettenrauchte und alte Songs von den Beach Boys sang. Das Haus ächzte jetzt um sie herum wie ein altes Schiff, das durch mittelschweren Seegang pflügte, und quietschte in seinen verschiedenen Gelenken, während der Wind es mit kalter Luft bestürmte. Jetzt konnte sie neben der schlagenden Tür noch einen klappernden Laden hören, aber diese Geräusche waren anderswo, in einer anderen Welt, wo Ehefrauen nicht mit Handschellen gefesselt wurden, Ehemänner sich nicht weigerten, ihren Wünschen nachzukommen und keine Geschöpfe der Nacht auf Pirsch gingen.
Ich will nicht nachschauen!, schrie ihr ganzes Denken. Ich will nicht nachschauen! Ich will nichts sehen!
Aber sie musste hinsehen. Es war, als würden kräftige Hände ihren Kopf drehen, während der Wind heulte und die Hintertür schlug und der Laden klapperte und der Hund wieder seinen einsamen, grauenerregenden Ruf in den nächtlichen Oktoberhimmel heulte. Sie drehte den Kopf, bis sie in das Arbeitszimmer ihres toten Mannes sah, und ja, wie erwartet, dort war sie, eine schlaksige Gestalt neben Geralds Eames-Stuhl vor der Glasschiebetür. Das schmale weiße Gesicht schwebte in der Dunkelheit wie ein langgezogener Totenschädel. Der dunkle, rechteckige Schatten des Musterkoffers hockte zwischen seinen Beinen.
Sie holte Luft, um zu schreien, aber heraus kam etwas, was sich wie ein Teekessel mit kaputter Pfeife anhörte: »Huhhhhaaahhhhhhh.«
Nur das, sonst nichts.
Irgendwo, in dieser anderen Welt, rann ihr heißer Urin am Bein hinab; sie hatte sich zum zweiten Mal an einem Tag in die Hosen gemacht, ein Rekord. Der Wind wehte böig in der anderen Welt und erschütterte das Haus bis auf die Knochen. Die Blaufichte stieß den Ast wieder gegen die Westwand. Geralds Arbeitszimmer war eine Lagune tanzender Schatten, und es war wieder schwer zu sagen, was sie sah … oder ob sie überhaupt etwas sah.
Der Hund ließ wieder seinen durchdringenden Angstschrei erschallen, und Jessie dachte: Oh, du siehst ihn durchaus. Vielleicht nicht so gut, wie der Hund da draußen ihn riecht, aber du siehst ihn.
Als wollte er eventuell noch bestehende Zweifel ausräumen, legte ihr Besucher den Kopf zu einer Art Parodie eines fragenden Ausdrucks schief, wodurch Jessie ihn deutlich, aber barmherzigerweise nur kurz sehen konnte. Das Gesicht war das eines Außerirdischen, der ohne nennenswerten Erfolg das Gesicht eines Menschen nachzuahmen versuchte. Zunächst einmal war es zu schmal – schmaler als jedes Gesicht, das Jessie je in ihrem Leben gesehen hatte. Die Nase schien nicht breiter als ein Buttermesser zu sein. Die hohe Stirn wölbte sich wie eine groteske Glühbirne. Die Augen des Dings waren schlichte schwarze Kreise unter dem dünnen, kopfstehenden V der Brauen; die leberfarbenen Lippen des Munds schienen gleichzeitig zu schmollen und zu schmelzen.
Nein, nicht zu schmelzen, dachte sie mit der grellen, scharf gebündelten Klarheit, die manchmal wie der Leuchtfaden in einer Glühbirne in einer Kugel pursten Entsetzens existierte. Nicht zu schmelzen, zu lächeln. Es versucht mich anzulächeln.
Dann bückte es sich, um den Koffer zu ergreifen, und das schmale, zusammenhanglose Gesicht verschwand barmherzigerweise aus dem Blickfeld. Jessie taumelte einen Schritt zurück, versuchte wieder zu schreien und brachte nochmals nur ein sprödes, glasiges Flüstern zustande. Der Wind, der um die Ecken heulte, war lauter.
Ihr Besucher richtete sich wieder auf, hielt die Tasche mit einer Hand und öffnete mit der anderen die Laschen. Jessie stellte zweierlei fest, und zwar nicht weil sie es wollte, sondern weil die Fähigkeit ihres Verstandes, sich auszusuchen, was er wahrnehmen wollte, völlig im Eimer war. Das Erste hatte mit dem Geruch zu tun, der ihr schon zuvor aufgefallen war. Nicht Knoblauch oder Zwiebeln oder Schweiß oder Schmutz. Es war verwesendes Fleisch. Das Zweite hatte mit den Armen der Kreatur zu tun. Jetzt war sie näher dran und konnte besser sehen (sie wünschte sich, es wäre
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