Das Spiel
herzerweichende Blau des Sees. Das rechts bot kein so romantisches Panorama – die Einfahrt und ihre graue Fregatte von Mercedes, inzwischen acht Jahre alt und mit den ersten Rostflecken an den Kotflügeln.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Zimmers, sah sie den gerahmten Batikschmetterling über der Kommode an der Wand hängen und erinnerte sich mit einem abergläubischen Mangel an Überraschung, dass es ein Geschenk von Ruth zum dreißigsten Geburtstag gewesen war. Sie konnte die winzige rot gestickte Signatur von hier aus nicht erkennen, aber sie wusste, dass sie da war: Neary,’81. Auch ein Science-Fiction-Jahr.
Neben dem Schmetterling (und passend wie die Faust aufs Auge, obwohl sie nie den Nerv aufgebracht hatte, ihren Mann darauf hinzuweisen) hing Geralds Bierkrug mit dem Aufdruck Alpha Gamma Rho an einem Chromhaken. Rho war kein besonders heller Stern am Firmament der Studentenschaften – die anderen Burschenschaftler nannten sie immer Alpha Grab A Hoe – »Alpha pack die Hacke« -, aber Gerald trug die Anstecknadel mit einer Art perversem Stolz und ließ den Bierkrug an der Wand hängen und trank jedes Jahr im Juni, wenn sie hierherkamen, das erste Bier des Sommers daraus. Derlei Zeremonien warfen manchmal, schon lange vor den Aktivitäten des heutigen Tages, die Frage auf, ob sie ihre fünf Sinne beisammengehabt hatte, als sie Gerald heiratete.
Jemand hätte es verhindern müssen, dachte sie trübselig. Jemand hätte es wirklich verhindern müssen, denn seht nur, was daraus geworden ist.
Auf dem Stuhl auf der anderen Seite der Badezimmertür konnte sie den aufreizend kurzen Hosenrock und die ärmellose Bluse sehen, die sie an diesem ungewöhnlich warmen Herbsttag getragen hatte; ihr BH hing am Türknauf der Badezimmertür. Über die Bettdecke und ihre Beine fiel ein heller Streifen Nachmittagssonnenschein, der die Härchen auf ihren Oberschenkeln in goldene Drähte verwandelte. Nicht das Quadrat aus Licht, das um ein Uhr fast genau auf der Mitte der Decke lag, und nicht das Rechteck um zwei; dies war ein breites Band, das bald zu einem Streifen schrumpfen würde, und obwohl ein Stromausfall den digitalen Radiowecker auf dem Frisiertisch durcheinandergebracht hatte (er blinkte immer wieder 12:00, so unbarmherzig wie eine Neonreklame), verriet ihr das Band aus Licht, dass es auf vier Uhr ging. Nicht lange, dann würde der Streifen vom Bett rutschen und sie würde Schatten in den Ecken und unter dem kleinen Lesetisch drüben an der Wand sehen. Und wenn der Streifen zum Faden wurde, der erst über den Boden kroch und dann die gegenüberliegende Wand erklomm und dabei verblasste, würden diese Schatten aus ihren Ecken gekrochen kommen und sich wie Tintenkleckse im Zimmer ausbreiten und unterdessen das Licht fressen. Die Sonne wanderte nach Westen; noch eine Stunde, höchstens eineinhalb, und sie würde untergehen; vierzig Minuten danach würde es dunkel sein.
Dieser Gedanke löste keine Panik aus – jedenfalls noch nicht -, aber er zog eine Membran der Niedergeschlagenheit über ihr Denken und eine klamme Atmosphäre des Grauens über ihr Herz. Sie sah sich mit Handschellen ans Bett gefesselt daliegen, und Gerald neben ihr tot auf dem Fußboden; sah sich und ihn lange nach Einbruch der Dunkelheit hier liegen, wenn der Mann mit der Motorsäge schon nach Hause zu Frau und Kindern und seinem hell erleuchteten Heim gegangen, der Hund davongestreunt war und nur noch der verdammte Eistaucher draußen auf dem See ihr Gesellschaft leistete – nur er, sonst niemand.
Mr. und Mrs. Gerald Burlingame, die eine letzte lange Nacht zusammen verbrachten.
Während sie den Bierkrug und den Batikschmetterling ansah, unpassende Nachbarn, die nur in einem Ferienhaus wie diesem toleriert werden konnten, stellte Jessie fest, dass es leicht war, über die Vergangenheit nachzudenken, und ebenso leicht (wenn auch nicht ganz so angenehm), sich mögliche Versionen der Zukunft auszumalen. Die echt schwierige Aufgabe schien zu sein, in der Gegenwart zu bleiben, aber sie dachte sich, dass sie sich wirklich größte Mühe damit geben sollte. Wenn nicht, würde diese schlimme Situation wahrscheinlich noch viel schlimmer werden. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass ihr ein Deus ex Machina aus der Klemme heraushalf, in der sie steckte, und das war ein Schlag ins Kontor, aber wenn es ihr selbst gelang, winkte ihr immerhin ein Bonus: Ihr wurde die Peinlichkeit erspart, fast splitterfasernackt hier zu liegen, während ein
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