Das Spiel
weiter. Dieses Ding sah nicht mehr wie Disco-Gerald aus – kein bisschen. Jetzt war es nur noch der Tote Gerald, der von Hundezähnen im schlappen Bizeps über den Boden geschleift wurde.
Ein zerfetzter Hautlappen hing dem Hund aus der Schnauze. Jessie versuchte sich einzureden, dass er wie Tapete aussah, aber eine Tapete hatte – jedenfalls soweit sie wusste – keine Leberflecke oder Narben. Jetzt konnte sie Geralds feisten rosa Bauch sehen, dessen einziges Merkmal das kleinkalibrige Einschussloch des Nabels war. Sein Penis wippte und baumelte in seinem Nest dunkelbraunen Schamhaars. Die Pobacken glitten unheimlich reibungslos und glatt über den Boden.
Unvermittelt wurde die erstickende Atmosphäre des Entsetzens von einem Schaft der Wut durchbrochen, der so grell wie Wetterleuchten in ihrem Kopf war. Sie akzeptierte diese neue Empfindung nicht nur, sie hieß sie sogar willkommen. Wut trug vielleicht nicht gerade dazu bei, aus dieser alptraumhaften Situation herauszukommen, aber sie spürte, dass sie ein Gegengift gegen ihr immer stärker werdendes Gefühl des Unwirklichen sein konnte.
»Du Mistvieh«, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme. »Du feiges, stinkendes Mistvieh.«
Sie konnte zwar an nichts auf Geralds Seite des Regals herankommen, aber Jessie stellte fest, wenn sie die linke Hand in der Handschelle drehte, so dass sie nach hinten über die Schulter deutete, dann konnte sie die Finger ein kurzes Stück auf dem Regal auf ihrer Seite hin und her bewegen. Sie konnte den Kopf nicht so weit drehen, dass sie sah, was sie berührte – es lag unmittelbar außerhalb jener dunstigen Stelle, die die Leute als Augenwinkel bezeichnen -, aber das machte eigentlich nichts. Sie wusste ziemlich genau, was sich da oben befand. Sie ließ die Finger hin und her wandern, strich mit den Fingerspitzen sacht über Make-up-Fläschchen, schob ein paar auf dem Regal weiter zurück und stieß andere herunter. Von Letzteren landeten einige auf der Bettdecke; andere prallten vom Bett oder ihrem linken Oberschenkel ab und fielen auf den Boden. Nichts kam dem, wonach sie suchte, auch nur nahe. Ihre Finger schlossen sich um eine Dose Nivea-Gesichtscreme, und einen Moment dachte sie, mit der ließe sich der Trick bewerkstelligen, aber es war nur eine Probepackung und damit so klein und leicht, dass sie dem Hund nicht wehtun würde, selbst wenn sie aus Glas statt Plastik bestanden hätte. Sie ließ sie wieder auf das Regal fallen und setzte ihre blinde Suche fort.
Am äußersten Ende der Reichweite stießen ihre tastenden Finger auf die abgerundete Kante eines Glasgegenstands, der bei weitem das Größte war, was sie bis jetzt berührt hatte. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, was es war, aber dann fiel es ihr ein. Der Krug, der an der Wand hing, war nur ein Souvenir von Geralds Alpha-Grab-A-Hoe-Zeit; jetzt berührte sie ein anderes. Es war ein Aschenbecher, und sie hatte ihn nur deshalb nicht gleich einordnen können, weil er auf Geralds Seite des Regals neben das Glas Eiswasser gehörte. Jemand – wahrscheinlich Mrs. Dahl, die Putzfrau, möglicherweise Gerald selbst – hatte ihn auf ihre Seite des Betts geschoben, vielleicht beim Abstauben, vielleicht um Platz für etwas anderes zu schaffen. Der Grund war so oder so einerlei. Er war da, und das genügte momentan völlig.
Jessie klammerte die Finger um die abgerundete Kante und spürte zwei Vertiefungen – die Ablagen für Zigaretten. Sie packte den Aschenbecher, zog die Hand, so weit sie konnte, zurück und stieß sie wieder nach vorne. Sie hatte Glück und winkelte das Handgelenk in dem Augenblick wieder an, als die Kette der Handschelle sich straffte, so wie ein Baseballwerfer, der einen angeschnittenen Ball warf. Das alles war eine rein impulsive Tat, sie suchte, fand und warf das Geschoss, ehe sie einen Fehlwurf riskieren konnte, indem sie darüber nachdachte, wie unwahrscheinlich es doch war, dass eine Frau, die in zwei Jahren Leibesübungen als Pflichtfach am College im Bogenschießen höchstens eine Vier geschafft hatte, einen Hund mit einem Aschenbecher treffen konnte, zumal dieser Hund vier Meter entfernt und die Wurfhand mit einer Handschelle an einen Bettpfosten gekettet war.
Trotzdem traf sie ihn. Der Aschenbecher drehte sich einmal im Flug und ließ kurz den Leitspruch von Alpha Gamma Rho erkennen. Sie konnte ihn vom Bett aus nicht lesen, aber das musste sie auch nicht; die lateinischen Worte für Hilfsbereitschaft, Wachstum und Mut waren kreisförmig
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